Liebe Uitikon,
Du scheinst mit Deinem verständlichen Kummer und Deinen gerechtfertigten Wünschen hier einiges aufgewühlt zu haben, da flogen ja fast die Fetzen ...
Natürlich möchtest Du richtig gesund und leistungsfähig werden, wenigstens gute Aussichten dafür haben. Du meinst, es muss doch Ärzte geben, die Dir das zurückgeben, was Dir die Arbeit bis zur Rente ermöglicht.
Du hast Dich mit der Taubheit auf dem einen Ohr abgefunden, aber die anderen Einschränkungen siehst Du nicht als organische Krankheit an, sondern als etwas, was gefälligst irgendwann mal besser werden muss. Und wenn das nicht von allein klappt, dann muss es doch jemanden geben, der Dich belastbarer macht, der Deine Konzentration wiederbringt, der Dich befähigt, mit der Reizüberflutung klarzukommen, der Dich von der raschen Ermüdung heilt.
Aber wie soll das gehen?
Wer soll das leisten?
Du bist in Deinen Aussagen ein wenig ungerecht geworden, gegenüber den berenteten Betroffenen und gegenüber den Neurochirurgen. Das war von Dir nicht so gemeint. Eigentlich hast Du, obwohl Du es Dir nicht eingestehst, eine riesen Wut auf das Sch... Menigeom, auf dieses kleine Ding, das Dir nicht nur den Hörnerv zerstört hat, sondern Dich mit lauter Einschränkungen belastet, die Du nun mal nicht haben willst, schon gar nicht dauerhaft.
Du kannst sicher sein, dass keiner der Betroffenen hier das haben wollte, dass es jedem nach dem ersten Schock und dann lange Zeit nach der OP sehr schwer gefallen ist, sich mit den Veränderungen abzufinden und sich auf sie einzulassen, die nun mal da sind.
Für den Neurochirurgen ist ein Meningeom gar nicht prima. Es ist für ihn eine verdammt hohe Anforderung, die richtige Abwägung zu finden, so viel wie nötig von dem Tumor zu entfernen, um Dein Leben zu retten, und andererseits so wenig gesunde Strukturen wie möglich zu beeinträchtigen.
Gerade bei Operationen im Gehirn ist es für die Ärzte immer eine Gratwanderung, ihrem Hippokratischen Eid zu entsprechen, nach dem sie keinen Schaden zufügen sollen. Aber um Dir das Leben zu erhalten und Dich nicht den Qualen des immer größer werdenden Meningeoms auszusetzen, das mehr und mehr Schäden anrichtet, haben sie es herausoperiert und vergleichsweise wenige Schäden angerichtet.
Sie sind darüber nicht glücklich!
Aber sie sind froh, wenn sie Hirntumorpatienten über Jahre immer wieder sehen, wenn sich diese ihnen gesund und sogar arbeitsfähig vorstellen.
Und sie forschen weiter, sammeln Daten, machen Studien, entwickeln immer feinere OP-Methoden, bessere Diagnosegeräte, zielgenauere Bestrahlungsgeräte, nebenwirkungsärmere Chemotherapien ....
Alles für uns, für Dich!
Aber zurück zu Deinen Wünschen, die hier eigentlich jeder hat.
Hast Du mal genau darüber nachgedacht, wie das jemand bei Dir erreichen soll?
Wie soll er Deine Belastungsdauer (Das wäre die passendere Bezeichnung.) erhöhen? Mit Aufputschmitteln? Oder die Konzentration, die Ermüdung, die Reizüberflutung? Mit Drogen? Energy-Drinks? - "Ich kann fliiiiiegen ... Platsch."
Es ist leider so, dass Du selbst daran arbeiten musst.
- Nutze Konzentrationsübungen, es gibt Materialien im Internet, auch im Buchladen, Zeitungsladen.
- Mach Sport, immer ein klein wenig über die Grenze der Belastbarkeit, aber nicht mehr. Es wird besser werden, auch mit der beruflichen Belastungsdauer. Für Dich selbst - zähl die Anzahl der geschafften Wiederholungen oder die Länge der Strecke oder der durchgehaltenen Zeit.
- Ruh Dich aus, wenn Du merkst, dass Du Dich überlastet fühlst, dass Du ermüdest. Lerne die Zeichen zu erkennen, wo Deine Grenzen sind, die Du jetzt scheinbar oft überschreitest. Wenn Dir das gelingt, wirst Du nicht mehr so kaputt sein, sondern es werden wenige Minuten völliges Abschalten genügen. Hierfür wäre es sehr gut, wenn Du Entspannungstechniken erlernst. Lass Dich beraten, welche Varianten es gibt, die auch während der beruflichen Tätigkeit angewendet werden können. Volkshochschulen bieten Kurse an, die z.T. von den Krankenkassen teilfinanziert werden.
- Setz Dich nicht größeren Menschenansammlungen aus, wenn es sich vermeiden lässt. Aber übe, nach und nach mit drei, vier, später zehn und dann irgendwann noch mehr Menschen zusammen sein zu können. Da gibt es viele Möglichkeiten - in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Kino, bei Konzerten, auf dem Markt, ...
- Für die Fingerkuppen nutze solche Noppenbälle oder mach Dinge mit den Händen wie Kneten, Töpfern, Unkraut zupfen, was weiß ich ...
Ich muss allerdings ehrlich sagen, dass es wirklich nicht einfach ist, das allein hinzubekommen. Mir hat mein Psychotherapeut dabei sehr geholfen. Und das war eine lange lange Zeit, die wir gemeinsam brauchten, um mich dorthin zu bringen. Und es ist eine harte Arbeit, an SICH SELBST zu arbeiten. Und sie hört nicht auf. Sie hört nicht auf.
Das tut weh, was ich da sage. Jedem Betroffenen tut das weh. Jeder würde sein "altes" Leben wieder haben wollen. Oder inzwischen auch nicht mehr, denn dieses "neue" Leben kann auch gute Seiten haben. Du kannst sie finden. Wenn Du bereit sein wirst, für sie offen zu sein.
Du "jammerst" zurecht, aber rückwärtsgewandt.
Du siehst Dein "Glas" halbleer.
Es wäre ohne die OP ganz ausgelaufen.
Es ist jetzt halb voll!
Und es liegt in Deiner Hand, es weiter zu füllen.
-----------------
Zur Schwerbehinderung stelle einen Änderungsantrag auf die Berücksichtigung all dessen, was Dich stört, was Dir fehlt, was Du hier geschrieben hast. Alle Krankheiten und Einschränkungen sind relevant, die Dir das Leben deutlich schwerer machen als dem durchschnittlichen Menschen. Dafür sind die Nachteilsausgleiche für Schwerbehinderte da.
------------------
Eine Arztempfehlung durch andere ist schwer. Jeder hat sich seine Ärzte gesucht, hat zu ihnen Vertrauen, musste es vielleicht erst aufbauen oder hat gewechselt. Immer gibt es auch ein subjektives Moment im Arzt-Patienten-Verhältnis.
Ganz abgesehen davon, dass gerade die Fachärzte, die Du meinst, lange Wartezeiten haben.
Eine Psychotherapie halte ich für Dich für wirklich richtig. Auch hier gibt es lange Wartezeiten und dann kann es auch noch vorkommen, dass man auch nach den 5 Probeterminen nicht miteinander klarkommt. Aber gehe es an, melde Dich an, lass Dich auf die Wartelisten setzen, die sie meist bereits haben. Oder mach es dringend.
Ein Neurologe, hast Du geschrieben, sollte bei Dir Deine Einschränkungen feststellen. Das kann er in seiner begrenzten Zeit nicht, das ist Dir ja klar. Wie soll er Dich so lange testen, bis Du nach ein oder zwei Stunden übelastet bist, Dich nicht mehr konzentrieren kannst und vor Müdigkeit umkippst. Da muss er Deinen Beschreibungen vertrauen. Dazu muss er Dich kennen lernen. Aber obwohl das auch sein Gebiet ist, hat der Psychotherapeut dafür mehr Zeit.
Zumindest solltest Du einen Hausarzt Deines Vertrauens finden, dem Du Dich ab und zu vorstellst, damit er einschätzen kann, wie Du bist. Meine Hausärztin sieht es mir an, ob es mir gerade gut geht oder schlecht, weil sie mich immer mal sieht. In ihrer begrenzten Zeit hört sie sich an, was mich bewegt und und nach muss ich nicht mehr viel sagen.
Vielleicht denkst Du jetzt: Hausarzt? Bin doch nicht krank. Was soll ich dem denn sagen?
Du sollst dem alles sagen, was Dir das Leben gerade so schwer macht! Dafür ist er da. Auch mal zum Zuhören. Eventuell für medikamentöse Hilfsmittel.
Er nimmt Dich an die Hand ... wenn Du sie ihm gibst.
------------------
Das klingt alles nicht schön.
Ich habe dieses Leben auch nicht so gewollt. Ich hätte den Kindern noch so viel geben können. Ich habe lernen müssen, es auf andere Weise zu tun, anderen Gutes zu tun.
Und verzweifle immer wieder deswegen. Und stehe wieder auf. Immer wieder.
Ich hoffe sehr, dass Du die Kraft aufbringst, Dich dem zu stellen, was Dir geschehen ist.
Auch ich konnte noch jahrelang weiter arbeiten, bis mich weitere Tumor-rezidive "aufs Abstellgleis geschoben haben". Ein Abstellgleis ist ein Ende für den Zug. Er kann nur noch zurück. Aber man kann aussteigen und vorwärts laufen. Per Anhalter weiterfahren. Bei guten Menschen einkehren, nach dem Weg fragen. Weitergehen. Immer weiter. Vielleicht wartet ein anderer Zug auf Dich.
KaSy