Protonentherapie
Manuskript des Radiobeitrags


Titel des Beitrags: "Protonentherapie - Quantensprung in der Krebsbekämpfung.
Wie bislang inoperable Tumoren besiegt werden können."


Ausstrahlung/Quelle: 18.02.1999, 19.30 Uhr, Bayern2Radio im Rahmen der Reihe
"Forum der Wissenschaft"

Autor: Holger Thurm, Erlangen, E-Mail-Adresse HThurm@aol.com

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"Protonentherapie - Quantensprung in der Krebsbekämpfung
Wie bislang inoperable Tumoren besiegt werden können"


(31'40")


Spr. Krebserkrankungen sind in den industrialisierten Ländern die zweithäufigste Todesursache. In der Bundesrepublik Deutschland sterben jährlich rund 210.000 Menschen an Krebs. Trotz enormer Fortschritte in der Krebstherapie können im Durchschnitt nicht einmal 50 Prozent der Patienten dauerhaft geheilt werden.

Die klassischen Behandlungsmethoden Chirurgie, Strahlen- und Chemotherapie stellen in Kombination, abgestimmt auf die jeweilige Tumorart, noch immer die beste Heilungsmethode dar. Die Hälfte der Patienten verstirbt jedoch an lokal nicht beherrschten Tumoren. Die Rücksicht auf gesunde Organe führt oft genug zum Scheitern aller Therapieversuche. Die Chirurgie kann nicht radikal genug, die Strahlentherapie nicht aggressiv genug und die medikamentöse Chemotherapie nicht toxisch genug sein, um die Krankheit ohne Schaden für den Patienten wirksam zu bekämpfen.

Professor Dr. Rolf Sauer, Direktor der Strahlentherapeutischen Klinik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. (ca. 1'00")
<1) O-Ton Prof. Sauer (1'38"):
"Die Heilungschancen in der Onkologie sind ganz unterschiedlich. Und zwar hängt dies von dem Tumortyp ab. Es gibt etwa 120 bis 150 verschiedene Tumorarten. Und die haben natürlich eine ganz unterschiedliche Heilungschance. Das hängt davon ab, wie exakt und radikal man sie am Ort behandeln kann, entweder durch chirurgische Maßnahmen oder durch Strahlentherapie, und zum zweiten davon, ob sie zum Zeitpunkt der Diagnose beziehungsweise zum Zeitpunkt der Operation, das heißt also, bevor sie entfernt werden konnten, bereits metastasiert haben. Und diese rasch metastasierten Tumoren sind nicht unser Problem, sondern es sind diejenigen, die wir durch lokale Maßnahmen bisher nicht beherrschen können.
Nicht alle Tumorerkrankungen sind operabel. Dann kommt für gewöhnlich der Strahlentherapeut zum Zug - durch alleinige Strahlentherapie oder durch Unterstützung der operativen Maßnahmen, die vorhergegangen sind. Und wir wissen heute, daß eben das Schicksal der meisten Tumorpatienten davon abhängt, ob ihr Tumor radikal entfernt werden konnte. Die lokale Tumorkontrolle, wie wir sagen, hat einen großen Einfluß auf das Überleben.">

Spr. Unter Strahlentherapie versteht man die Behandlung mit ionisierenden Strahlen. Ein Ion ist ein elektrisch geladenes Teilchen, das aus Atomen oder Molekülen durch Anlagerung oder Entzug von Elektronen entsteht. Ionisierende Strahlen sind beispielsweise die gemeinhin als Röntgenstrahlen bekannten Photonenstrahlen, Kobaltstrahlen sowie Elektronenstrahlen und radioaktive Isotope.

Die vielen verschiedenen Tumorarten erfordern auch ganz unterschiedliche Strahlenbehandlungen. In der Regel wird der Krankheitsherd von außen durch die Haut bestrahlt. Welche Strahlen eingesetzt werden, hängt von der Lage der Tumoren im Körper ab: Sogenannte Telekobaltbestrahlungsgeräte eignen sich für tief- oder halbtief gelegene Tumoren. Linearbeschleuniger liefern zwei Arten von Strahlung: Röntgenstrahlung, vor allem für tiefliegende Tumoren, und Elektronenstrahlung für knapp unter der Haut sitzende Krankheitsherde. Elektronen werden vom Gewebe sehr stark gebremst, so daß sie nicht tief in den Körper eindringen können.

Doch nicht immer erfolgt die Bestrahlung von außen: Manchmal werden Strahlenquellen auch direkt in Körperhöhlen untergebracht oder radioaktive Substanzen gezielt eingenommen beziehungsweise gespritzt.

Der Strahlenbehandlung geht eine intensive Untersuchung des Tumorleidens voraus. Der Strahlentherapeut entscheidet dann, welche Art von Bestrahlung am effektivsten ist. Ein Behandlungsplan soll die Therapie so verträglich und nebenwirkungsfrei wie möglich gestalten. Die Nebenwirkungen selbst hängen von der jeweils bestrahlten Körperregion ab. Nicht nur muß der Organismus die Zerfallsprodukte des zerstörten Tumors verarbeiten, die Strahlen treffen auf ihrem Weg zum Tumor auch auf gesundes Gewebe und können es unter Umständen schädigen. (ca. 1'45")

<2) O-Ton Prof. Sauer (0'28"):
"Das Dilemma in der modernen Strahlentherapie besteht darin, daß, wenn bestrahlt wird, nicht nur das Tumorgewebe bestrahlt wird, sondern auch das gesunde Gewebe darum herum. Auf der Einflugschneise des Strahls wird halt mitbestrahlt. Das bedingt die Chancen, einen Tumor zu beherrschen oder ihn eben zu verfehlen.">

Spr. Ein Beispiel für schwierig zu bestrahlende Tumoren ist der sehr häufig auftretende Krebs der Vorsteherdrüse beim älteren Mann, das sogenannte Prostata-Karzinom. Die Prostata liegt unmittelbar an der Vorderwand des Enddarms an. Bestrahlt man die Prostata, dann wird immer auch ein Teil des Enddarms mitbestrahlt. Die Gefahr ist sehr groß, daß es dort zu bleibenden Schäden kommt. (ca. 0'22")

<3) O-Ton Prof. Sauer (1'34"):
"Ein anderes Beispiel sind Tumoren im Bereich der Schädelbasis, in der Nähe der wichtigen Hirnnerven, in der Nähe des Sehnerven, am Augenhintergrund. Dort käme es auf eine milimetergenaue Applikation des Strahls an, ohne Nachbargewebe mitzubeeinträchtigen, sonst würde der Patient ja blind werden, oder es würden Hirnnervenausfälle auftreten. Oder denken Sie an Tumoren, die im Bereich des Rückenmarks liegen, Bereich der Wirbelsäule liegen, denken Sie an Tumoren, die bei Kindern auftreten. Das kindliche Gewebe kann Chemotherapie verhältnismäßig gut vertragen dadurch, daß die Schäden - es handelt sich hier hauptsächlich um Akutschäden, also um schnell auftretende Schäden, die auch bald wieder repariert werden können, also daß das kindliche Gewebe diese Schäden repariert. Es gibt aber auch noch Spätschäden, das sind die, die uns besonders zu schaffen machen. Dazu gehören Nekrosen im Gehirn, also örtlicher Gewebsuntergang, dazu gehört eine gefährliche Narbenbildung verschiedener Gewebe, es ist vor allen Dingen die Wachstumsstörung im Kindesalter von Belang. Und das begrenzt den Einsatz der herkömmlichen Strahlentherapie im Kindesalter ganz erheblich.">

Spr. In den letzten Jahrzehnten wurde auf dem Gebiet der Strahlentherapie sehr viel geforscht. Mit verschiedenen Methoden wurden Strahlen fokussiert oder ihre Eindringtiefe und Intensität verändert. Strahlenschutzsubstanzen wurden eingesetzt, um gesundes Gewebe zu schonen. Umgekehrt versuchte man, Tumorgewebe für ionisierende Strahlen zu sensibilisieren. An der Erlanger Universitätsklinik hat man sich besonders mit dem simultanen Einsatz von Strahlen- und Chemotherapie beschäftigt, ja, diese kombinierte Behandlungsmethode in der Onkologie erst eingeführt.
Die Möglichkeiten der herkömmlichen Strahlentherapie sind weitgehend ausgeschöpft. Derzeit wird alles eingesetzt, was technisch möglich ist. Bemühungen um eine Weiterentwicklung der Bestrahlungstechnik werden letztlich durch die heute nutzbare Strahlenart beschränkt, nämlich Röntgenstrahlen mit einer Maximalenergie zwischen 6 und 15 Megaelektronenvolt.

Trotzdem bleibt bei einer Vielzahl von Tumoren das Problem, daß sie durch die konventionelle Strahlentherapie nicht vollständig zerstört werden können. Tumorrückfälle sind an der Tagesordnung. Ursache hierfür ist zum einen die rasche Reparaturfähigkeit von Tumoren. Zum anderen kann die Bestrahlung des empfindlichen gesunden Gewebes erhebliche Nebenwirkungen oder gar die Bildung neuer Tumoren hervorrufen.

In der Strahlentherapie, wie sie heute internationaler Standard ist, werden modifizierte Röntgenstrahlen oder Gammastrahlen eingesetzt. Die Wirkung dieser Strahlen ist genau bekannt. In der Forschung experimentierte man auch mit anderen Strahlenarten wie beispielsweise den Neutronenstrahlen. Alle diese Versuche schlugen letztlich fehl, weil die Strahlen nicht den gewünschten Effekt brachten beziehungsweise der Dosisverlauf im Körper unbefriedigend war. (ca. 1'46")
<4) O-Ton Prof. Sauer (1'17"):
"Wenn ich normalerweise einen Strahl in den Körper schicke, dann gibt er auf seiner gesamten Einflugschneise Energie ab - an der Oberfläche mehr und in der Tiefe weniger. Das oberflächliche Gewebe wird also stärker belastet, das tiefere weniger. Die meisten Tumoren liegen nicht an der Körperoberfläche, sondern liegen tief im Körperinneren - schwer erreichbar, wenn man das gesunde Gewebe vollständig oder weitgehend schonen möchte. Natürlich gibt es verschiedene Tricks: Die Strahlentherapie ist ja auch nicht stehengeblieben. Es gibt verschiedene Tricks, wie man auch solche Strahlenarten sehr schön fokussieren kann. Man kann auch hier einen Strahl in seiner Intensität verändern, man kann seine Eindringtiefe verändern, man kann über verschiedene Strahlrichtungen einstrahlen, so daß man auch hier eine recht gezielte Strahlentherapie praktizieren kann. Aber das Grundübel, daß nämlich dort, wo eigentlich die Strahlung nicht gebraucht wird, sehr viel Energieabgabe erfolgt und deshalb Strahlenwirkung auftritt, um dieses Problem kommt man nicht herum.">

Spr.. Protonen haben gegenüber Röntgenstrahlen gewisse Vorteile in ihren physikalischen Eigenschaften, die sie für die Strahlentherapie geradezu prädestinieren. Entlang ihrer Eindringspur im Gewebe weisen sie eine ganz charakteristische Dosisverteilung auf. (ca. 0'15")
<5) O-Ton Prof. Sauer (1'03"):
"Wenn ich einen Protonenstrahl in das Gewebe einschieße, gibt es auf der Einflugschneise praktisch keine Energieabgabe - eine geringe, aber jedenfalls unvergleichlich viel weniger als bei einer Röntgenstrahlung oder bei einer Elektronenstrahlung. Der Strahl gibt erst dort seine Energie ab, wo ich es möchte. Das kann ich berechnen vorher, das kann ich einstellen, und dann entsteht - ja, wir sagen: ein Peak. Das ist also, wenn Sie das sich graphisch auftragen würden, es ist so, als würde eine Stecknadel im Raum stehen, so genau kann man das angeben. Und nun kann ich mit dieser ganz umschriebenen Energieabgabe, also mit solch einer Stecknadel, sozusagen einen Tumor abscannen, das ganze Tumorvolumen abfahren, und dadurch im Tumorgewebe, also im Zielgebiet, eine sehr hohe Energieabgabe erreichen und im umgebenden Gewebe praktisch nichts.">

Spr. Protonen deponieren also zu Beginn ihrer Wanderung durch das Körpergewebe äußerst wenig Dosis. Dann steigt die Energieabgabe sehr stark an, um im folgenden wieder steil bis auf Null abzufallen. Der Höhepunkt der Energieabgabe, der sogenannte "Peak", läßt sich genau ermitteln.

Die Eindringtiefe eines Protons wird nämlich durch sein Energieniveau bestimmt. Jeder Punkt eines Tumors kann mit einem entsprechend beschleunigten Protonenstrahl erreicht werden. Soll der Strahl beispielsweise 30 Zentimeter tief in das Gewebe eindringen, so benötigt er eine Energie von 230 Megaelektronenvolt. Das entspricht Teilchengeschwindigkeiten von mehr als der Hälfte der Lichtgeschwindigkeit.

Variiert man die Energie während der Bestrahlung, kann die Dosis im Tumorgewebe gleichmäßig verteilt werden. Außerdem lassen sich Protonen als geladene Teilchen mittels magnetischer Felder präzise lenken. Die den Tumor zerstörende Energiedosis kann also milimetergenau in der Zielregion plaziert werden - eine Punktlandung sozusagen.

Durch diese Präzision und die geringe Belastung des umliegenden gesunden Gewebes kann auch die Strahlendosis drastisch erhöht werden. Der Krebs wird nun mit aller Macht bestrahlt, die Nebenwirkungen sind zu vernachlässigen. Aufgrund strahlenbiologischer Gesetzmäßigkeiten reichen allein zehn Prozent mehr Strahlendosis aus, um den Grad der Tumorvernichtung um zwanzig Prozent zu erhöhen.

Die Protonentherapie ist dennoch keine biologische Wunderwaffe. Die Wirkung dieser Strah-len auf Tumorgewebe unterscheidet sich kaum von der Wirkung bislang eingesetzter Strahlung. Es ist lediglich das physikalische Verhalten von Protonen, das eine extrem zielgenaue Anwendung im Körper und deswegen eine sehr hohe Dosierung erlaubt. Dementsprechend größer sind auch die Heilungschancen: Mit der Protonentherapie steigt die Heilquote bei inoperablen Tumoren von bisher zwanzig auf 85 Prozent, bei anderen Tumoren auf bis zu 99 Prozent.

Die Protonentherapie ist eine in der Klinik eingeführte Therapie und kein eigentlicher Forschungsgegenstand. Die bisherigen Erfahrungen stützen sich auf Patientendaten aus physikalischen Forschungszentren, die im Grunde ganz andere Zielrichtungen verfolgen. Hier steht meist nur ein kleiner Teil der Strahlenkapazität für medizinische Zwecke zur Verfügung. Kernphysikalische Anlagen gibt es vor allem in den Vereinigten Staaten und Rußland, aber auch in England, Japan, Italien und der Schweiz.

Über 20.000 Patienten sind mittlerweile mit großem Erfolg therapiert worden, vor allem in den USA. Das Universitätskrankenhaus im kalifornischen Loma Linda hat 1990 eine Protonenbeschleuniger-Anlage in Betrieb genommen, die ausschließlich zur Tumortherapie verwendet wird. Aufgrund der Patientendaten kann heute bereits von einer gesicherten Therapie ausgegangen werden. Gerade bei inoperablen Tumoren in der Nachbarschaft kritischer Gewebsstrukturen wie Auge, Hirn oder Rückenmark zeugen die Ergebnisse vom durchschlagenden Erfolg der Protonentherapie. (ca. 2'59")

<6) O-Ton Prof. Sauer (2'16"):
"Was wir bisher wissen, beruht auf etwa 20 bis 22.000 Patienten, die über die Welt verstreut behandelt worden sind. Und da handelt es sich in erster Linie um Tumoren des Auges, Tumoren im Bereich des Rückenmarkskanals, Tumoren im Bereich der Schädelbasis, in der Lunge, in der Prostata, um nur mal einige zu sagen. Und da kommt es halt zu einem - ja, ich möchte sagen, wirklich einem Quantensprung. Es sind nicht wenige Prozente mehr, die man hier als Heilungschance hat.
Wenn ich mir zum Beispiel anschaue, wie die Ergebnisse sind bei - im übrigen gutartigen Tumoren in der Hirnanhangsdrüse, den Hypophysenadenomen. Diese Hypophysenadenome werden heute mikrochirurgisch operiert. Wenn der Operateur ein Hypophysenadenom, so heißt man diese Tumoren, vollständig entfernen kann, besteht eine Rückfallhäufigkeit von vier bis fünf Prozent.
Wenn dieser Tumor bereits in die Nähe von Blutgefäßen gekommen ist oder in die Nähe des Sehnerven oder in den Knochen eingewachsen ist, dann kann der Neurochirurg diesen Tumor nicht mehr komplett entfernen, dann unternimmt er für gewöhnlich auch nicht den Versuch, sondern überläßt das dem Strahlentherapeuten. Wir sind da ganz erfolgreich, aber wir haben eine Rückfallrate von 30, 25 Prozent.
Wenn ich die Protonentherapie einsetze, habe ich eine Rückfallrate von einem Prozent. Ich liege also in einem Bereich, den ich erreichen kann bei einem kleinen Tumor mit der alleinigen Operation unter dem Mikroskop. Und das ist doch wirklich ein Quantensprung in den Ergebnissen, wenn man bedenkt, daß es sich ja hier um inoperable Tumoren handelt, die mit solch einer geringen Rückfallwahrscheinlichkeit geheilt werden können.">

Spr. Die Heilungschancen beim sogenannten "Schwarzen Krebs" der Augen-Aderhaut sind vergleichbar. Die Rückfallquote beträgt hier unter Anwendung der Protonentherapie nur noch vier bis fünf Prozent. (ca. 0'12")

<7) O-Ton Prof. Sauer (1'48"):
"Ähnlich verhält es sich beim Prostata-Karzinom, also bei dem häufigsten Karzinom des älteren Mannes, Karzinom der Vorsteherdrüse. Da haben wir mit der Protonentherapie etwa eine Heilungsrate von 95 Prozent, also einen Mißerfolg von fünf Prozent, und das ist tatsächlich wert, sich dieser Therapie anzunehmen.
Wenn Sie jetzt nach dem Lungenkrebs fragen, besteht das Problem darin, daß die Tumoren, die in der Lunge direkt sitzen, durch Strahlung sehr schwer angehbar sind, weil die Lunge selbst ein hoch strahlenempfindliches Organ ist. Da bleibt eigentlich für eine kurative Behandlung nur die Chirurgie. Und die Ergebnisse der Chirurgie sind ja auch nicht gerade bewegend: Nur 30 Prozent der Patienten mit Bronchial-Karzinom, mit Lungenkrebs, können durch chirurgische Maßnahmen geheilt werden, fünf Prozent durch die bisherige Strahlentherapie.
Und wenn Sie jetzt die Protonen ansprechen, dann trifft das, was ich bisher gesagt habe, nämlich die hohe Präzision der Dosisabgabe, die Schonung des gesunden Gewebes ganz wesentlich natürlich auch für die Lunge zu. Und gerade in Loma Linda in Kalifornien sind in Zusammenarbeit mit einer Lungenklinik in Thüringen Ergebnisse erzielt worden, die sehr Mut machen, daß man Patienten mit Lungenkarzinom eben heilen kann, ohne operieren zu müssen - und ohne die bisherigen Nebenwirkungen der Strahlentherapie in Kauf nehmen zu müssen.">

Spr. Die Erfolge der Protonentherapie sind weltweit anerkannt. Viele Organisationen und medizinische Institute bemühen sich derzeit um die Errichtung von Therapiezentren. In den USA, in Japan, Taiwan und Europa werden klinische Anlagen geplant, die wie in Loma Linda nur für die Patientenbehandlung gedacht sind. In Europa existieren mehrere Planungsgruppen, die Konzepte für große nationale Therapiezentren entwickeln.

In Deutschland gibt es bislang nur einige kernphysikalische Anlagen, in denen sehr begrenzt auch Patienten behandelt werden. In der Anlage in Darmstadt befaßt man sich mit der sogenannten Schwerionentherapie. Schwerionen haben eine ähnliche Dosisverteilung wie Protonen, ihre Wirkung ist allerdings bislang kaum erforscht. Im Berliner Hahn-Meitner-Institut gibt es einen Protonenstrahl, der sich jedoch nur zur Augentherapie einsetzen läßt. Im Nachbarland Schweiz verfügt das Paul-Scherrer-Institut in Villingen bei Zürich über eine umgebaute Protonenanlage, die aber im wesentlichen auf physikalische und strahlenbiologische Experimente ausgerichtet ist.
In Erlangen will ein im Februar 1998 gegründeter gemeinnütziger Förderverein die Errichtung des ersten klinikgebundenen Protonentherapiezentrums in Europa vorantreiben. Professor Sauer ist eines der Vereinsmitglieder. (ca. 1'17")

<8) O-Ton Prof. Sauer (1'31"):
"Also, wie Sie wissen, sind wir ja in Erlangen ehrgeizig. Wir haben das Ziel, Medizinhauptstadt zu werden, das heißt, daß wir hier wirklich das Zentrum der Innovation sein möchten auf dem medizintechnischen Sektor. Dafür sind die Bedingungen günstig. Es ist hier ein großer Elektrokonzern am Ort. Wir haben eine namhafte Technische Fakultät, die in ihrer Art die erste in Deutschland ist. Wir haben hier eine Strahlenklinik, die nicht nur nationales, sondern internationales Renommée hat. Wir haben hier in der Universität ein Institut mit einer Lehrstuhlinhaberin für Experimentalphysik, die gerade auf dem Gebiet der Protonen experimentell arbeitet und gearbeitet hat, hervorragende internationale Preise gewonnen hat. Wir haben hier in unserem Klinikum den Erfinder - wenn ich mal so sagen darf - der modernen Bildgebung auf dem Gebiet der Kernspintomographie. Wir arbeiten hier gemeinsam auf dem Gebiet neuer bildgebender Verfahren, die gerade für die Protonentherapie von großem Interesse sein sollten. Und da meinen wir, daß die Protonentherapie hier sehr gut hinpaßt.">
Spr. Das Klinikum verfügt schon heute über eine Biomagnetismusanlage, verschiedene Magnetresonanz- und Computer-Tomographen, digitale Mammographie und Herzkatheter-Meßplätze. Eine Protonentherapie-Anlage wäre für den Medizinstandort Erlangen und die Universität in der Tat eine Art "Kronjuwel".

Der Förderverein für das Protonentherapiezentrum wird getragen von einzelnen Physik- und Medizin-Lehrstühlen der Friedrich-Alexander-Universität, von der Stadt Erlangen, der Siemens AG und weiteren privaten Investoren. Die eigentliche Initiatorengruppe besteht aus hochmotivierten ehrenamtlichen Mitarbeitern. Ein im Krankenhausbau erfahrenes Architektenteam hat bereits eine nahezu vollständige Architekturplanung vorgelegt. Auch die Betriebs- und Folgekosten wurden exakt bestimmt. Die Daten vergleichbarer Anlagen aus den USA, aus Japan und aus England dienten als Vorbild.

Das Erlanger Protonentherapiezentrum soll in der Nähe des Universitätsklinikums auf dem Gelände der ehemaligen US-Kaserne, dem sogenannten Röthelheimpark, entstehen. Etwa 10.000 Quadratmeter dieses Areals sind dafür vorgesehen. Modernste Diagnose-, Planungs- und Bestrahlungsmethoden sollen im Therapiezentrum zum Einsatz kommen. So wird ein Teilchenbeschleuniger im Wert von über 50 Millionen Mark angeschafft, der Protonen auf mindestens 230 Megaelektronenvolt beschleunigen kann. Die damit erreichbaren Eindringtiefen gestatten die Behandlung aller tiefliegenden Tumoren. Für eine extrem schonende Behandlung muß der Protonenstrahl außerdem aus verschiedenen Richtungen auf den Patienten gerichtet werden. Deshalb sollen in Erlangen insgesamt vier verschiedene Behandlungsräume mit rotierbaren Strahlführungssystemen, sogenannten "Gantries", eingerichtet werden.

Dementsprechend hoch ist der Finanzbedarf: (ca. 1'51")

<9) O-Ton Prof. Sauer (0'24"):
"Die Protonentherapie ist sehr teuer. Es ist nicht ein herkömmlicher Linearbeschleuniger, den man aufstellt, der ja auch schon sehr teuer ist, sondern es ist - ja, wenn Sie so wollen - ein großer Reaktor, der gebaut werden muß, und die Anlage mit den entsprechenden Nebenräumen ist in der Größenordnung eines Krankenhauses.">

Spr. An den Finanzen sind denn auch bisherige Bemühungen zur Errichtung eines Protonentherapiezentrums in Deutschland gescheitert. Allein in Bayern gab es bereits zwei Projekte, die vergeblich auf staatliche Fördermittel hofften und schließlich fallengelassen werden mußten. (ca. 0'15")

<10) O-Ton Prof. Sauer (0'34"):
"Wir müssen heute leider erkennen, daß in der öffentlichen Hand die Gelder immer weniger werden. Wir sind im Augenblick praktisch gelähmt, auch im konservativen Krankenhausbau, weil keine Gelder vorhanden sind. Dem gegenüber liegt sehr viel Geld auf der Straße, sage ich immer, also in der privaten Hand ist sehr sehr viel Geld. Und deshalb ist unser Konzept die private Investition. Und damit nehme ich an, daß wir erfolgreich sind.">

Spr. Der finanzielle Rahmen liegt bei etwa 120 bis 140 Millionen Mark. Schätzungsweise 100 Arbeitsplätze wären mit dem Protonentherapiezentrum verbunden. Die Initiatoren gehen von jährlichen Betriebskosten von bis zu 40 Millionen Mark aus. Legt man diese Zahlen zugrunde, müßten für einen wirtschaftlichen Betrieb der Anlage circa 1.200 Patienten pro Jahr für ihre Therapie 30 bis 40.000 Mark bezahlen.

Für den Durchschnittspatienten sind solche Behandlungen folglich unerschwinglich, muß er sie aus eigener Tasche bezahlen. Damit die gesetzlichen Krankenkassen sich zu einer Übernahme derartiger Kosten bereit finden, bedarf es laut Professor Sauer noch weiterer Verhandlungen. (ca. 0'40")

<11) O-Ton Prof. Sauer (0'41"):
"Wir haben die Krankenkassen davon überzeugt, daß die Protonentherapie eine wichtige Therapie ist. Die Krankenkassen wissen, daß sie solch eine Therapie, wenn sie denn hier angeboten wird, auch von den Krankenkassen bezahlt werden muß. Das Problem liegt im Augenblick darin, daß natürlich die bayerischen Krankenkassen nicht für einen Patienten aus Norddeutschland oder Westdeutschland oder Berlin zahlen können. Das heißt, es braucht eine Abstimmung der Krankenkassen auf Bundesebene. Darum haben wir uns bemüht. Die endgültige Abstimmung steht noch aus. Wir sind optimistisch.">

Spr. Die Sorgen der Krankenkassen vor einer Kostenexplosion bei der Strahlenbehandlung sind nicht unbegründet. Eine derart erfolgreiche Therapie wie die Protonentherapie würde schließlich jeder Krebspatient gerne in Anspruch nehmen. Doch hier schränkt Professor Sauer ein: (ca. 0'14")

<12) O-Ton Prof. Sauer (1'01"):
"Wenn wir in Erlangen erfolgreich sein sollten, und ich rechne damit, dann wird das die erste krankenhausgebundene Protonentherapie-Anlage nicht nur in Deutschland sein, sondern in Europa sein. Und dann wird der Ansturm auf diese Therapiemodalität so groß sein, daß wir uns auf ein verhältnismäßig kleines Spektrum von Tumoren beschränken müssen, nämlich auf das, wo mit herkömmlicher Strahlung die Ergebnisse unbefriedigend sind und durch Protonenstrahlung namhaft verbessert werden können. Das sind wie gesagt die Tumoren im Kindesalter, es sind die Tumoren entlang der Sehbahn, im Bereich der Schädelbasis, entlang dem Rückenmarkskanal, und wenn man dann noch Kapazität frei haben sollte, dann kann man sich um die Massentumoren kümmern.">
Spr. Dieses eingeschränkte Behandlungsspektrum ist also angesichts der knappen Therapieplätze schlicht ein Gebot der Machbarkeit, aber auch ein Zugeständnis an die Krankenkassen. (ca. 0'10")

<13) O-Ton Prof. Sauer (1'27"):
"Für die Krankenkassen geht es natürlich darum, daß die Behandlungskosten im Gesundheitswesen nun nicht in unvertretbarem Maße steigen. Und ich kann die Kassen sehr gut verstehen, daß sie fürchten, daß hier eine neue Kostenlawine losgetreten wird. Deshalb haben wir bei den Verhandlungen mit den Krankenkassen und zusammen mit ihnen sehr darauf gesetzt, eben dieses beschränkte Behandlungsspektrum finanziert zu bekommen und nicht die ausgesprochenen Massentumoren, Brustkrebs, Bronchialkarzinom, Darmkrebs, Prostatakrebs, die mit herkömmlichen Verfahren schon ganz gut behandelbar sind und wo nicht solch eine große Versorgungslücke eigentlich besteht.
Gut, wer will, kann natürlich auch seine Prostata bestrahlen lassen mit Protonen. Es gibt eine große Zahl von Patienten, die in die Vereinigten Staaten fährt, Medizintourismus, sagt man dazu. Es sind die Wohlhabenden. Wir wollen das nicht, wir wollen nicht nur Privatpatienten behandeln. Es ist ganz gegen meine Einstellung, hier eine Zwei-Klassen-Medizin aufzubauen. Und ich tue alles, um die Krankenkassen davon zu überzeugen, daß solch eine Behandlung jedem Patienten angeboten werden kann.">
Spr. Auf die Protonentherapie werden viele Hoffnungen gesetzt. Um so größer dürfte die Enttäuschung jener Patienten sein, deren Tumorerkrankung zu dieser Therapie nicht zugelassen wird. Professor Sauer ist sich dieser Problematik bewußt: (ca. 0'14")

<14) O-Ton Prof. Sauer (1'37"):
"Es werden sich natürlich bei uns viele Patienten melden, die eine solche Behandlung haben möchten. Als wir das erste Mal in der Zeitung geschrieben haben, konnten wir uns vor Telefonanrufen nicht retten, und meine Patienten sagen mir manchmal: 'Ich habe jetzt wohl meinen Krebs etwas zu früh bekommen' und 'Wär's doch etwas später, dann könnte ich mit Protonen behandelt werden.' So ist das immer mit einem neuen Verfahren. Man darf aber eine solche Therapie - aus welchen Gründen auch immer - nicht unindiziert einsetzen. Deshalb werden wir hier, wie das in einem Tumorzentrum üblich ist, einen Patienten, der jetzt aus Hamburg, Berlin oder Dortmund kommt, oder aus München oder aus Erlangen, in einer interdisziplinären Tumorkonferenz vorstellen und dort einen Behandlungsplan festlegen.
Wenn dann entschieden wird: nicht herkömmliche Strahlentherapie, nicht Operation, nicht Chemotherapie, sondern Protonentherapie, dann wird dieser Patient entweder, wenn er bettlägerig ist, im Universitätsklinikum bleiben, oder - was die Regel sein wird - ambulant behandelt werden können. Dazu haben wir ein - neudeutscher Ausdruck - 'Boarding House' vorgesehen, das ist also eine Art Hotel für etwa 60 bis 70 Personen inklusive Begleitpersonen. Es ist vorgesehen, daß in diesem Areal auch Arztpraxen angesiedelt sein können. Wir haben ein Parkhaus vorgesehen. Also, es ist eigentlich alles denkbar, was wir benötigen.">

Spr. Der Patientenalltag soll so angenehm wie möglich gestaltet werden. Nach einer Eingangsuntersuchung und weiteren vorbereitenden Maßnahmen wird der Patient im Durchschnitt fünf Wochen lang täglich bestrahlt. Eine einzelne Sitzung nimmt höchsten zwanzig Minuten in Anspruch. Danach kann er für gewöhnlich nach Hause oder in sein Hotel gehen.

Der Patient ist also in seiner Lebensqualität unwesentlich beeinträchtigt. Da die Protonenstrahlung kaum Reaktionen des gesunden Gewebes hervorruft, hinterläßt auch die Behandlung keine unangenehmen Nebenwirkungen. (ca. 0'30")

<15) O-Ton Prof. Sauer (0'22"):
"Kein Erbrechen und keine Kopfschmerzen und keine Gliederschmerzen und keinen Abfall der weißen und der roten Blutkörperchen oder der Blutplättchen mit der Gefahr der Infektion oder der Blutung. Nein, das gibt es dann nicht. Wenn es sich nicht um eine wirklich ernsthafte Erkrankung handelte, dann könnte man sagen, das hat fast Kurcharakter, ja.">
Spr. Wenn die Planungen abgeschlossen sind, könnte im Herbst 1999 mit dem Bau des Protonentherapiezentrums begonnen werden. Als Bauzeit werden etwa zwei bis drei Jahre veranschlagt. Danach könnten die ersten Patienten behandelt werden. Die maximale Auslastung der Anlage wird erst nach ein paar weiteren Jahren möglich sein. Ab schätzungsweise 2004 wäre dann in Erlangen das erste klinikgebundene Protonentherapiezentrum Europas im vollen Umfang betriebsbereit. (ca. 0'26")
O-Töne: ~ 17'41"
Text: ~ 13'59"
gesamt: ~ 31'40"


Verfasser: Holger Thurm

Interview-Partner:
· Professor Dr. Rolf Sauer, Direktor der Strahlentherapeutischen Klinik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

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