HirnTumor-Forum

Autor Thema: Berichte vom 36. HT-Info-Tag am 9. Mai 2015 im Würzburg  (Gelesen 13232 mal)

Offline KaSy

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Ich, KaSy, möchte die acht Vorträge für Euch beschreiben und hoffe, dass es mir diesmal gelingt.
Ich schreibe sie nach meinen Notizen aus Würzburg und habe sie, wo es mir angebracht erschien, mit eigenen Ergänzungen und Erklärungen (kursiv gedruckt) versehen.


Hinweis: Die Tagungsunterlagen enthalten zu den ersten sechs Vorträgen Texte, die bereits in der "Brainstorm" bzw. im Forum der Deutschen Hirntumorhilfe e.V. veröffentlicht wurden. Deshalb verarbeite ich diese nicht in den Berichten.

Ich habe heute die beiden letzten Vorträge hier ins Forum geschrieben.



36. Hirntumor-Informationstag am 9. Mai 2015 in Würzburg

Tagesordnung:

1. Operative Therapie von Meningeomen
Privat-Dozent Dr. med. Mario Löhr

Leitender Oberarzt
Neurochirurgische Klinik und Poliklinik
Universitätsklinikum Würzburg
Josef-Schneider-Straße 11
97080 Würzburg


2. Neue Möglichkeiten der Strahlentherapie
Professor Dr. med. rer. nat. Jürgen Debus

Ärztlicher Direktor
Klinik für RadioOnkologie und Strahlentherapie
Universitätsklinikum Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 400
69120 Heidelberg


3. Therapie epileptischer Anfälle bei Hirntumoren
Dr. Günter Krämer

Neurologe und Epileptologe
Neurozentrum Bellevue
Theaterstraße 8
CH 8001 Zürich


4. Chemotherapie – Aktuelle Entwicklungen und Studien
Professor Dr. med. Peter Hau

Oberarzt
Klinik und Poliklinik für Neurologie
Universitätsklinikum Regensburg
Universitätsstraße 84
93053 Regensburg


5. Supportive Therapie bei Hirntumoren
Professor Dr. med. Dipl.-Psych. Peter Krauseneck

- im Ruhestand -
Er war viele Jahre Chefarzt der Neurologischen Klinik der Sozialstiftung Bamberg.


6. Was kann der Chirurg beim Rezidiv leisten?
Professor Dr. med. Walter Stummer

Direktor
Neurochirurgische Klinik
Universitätsklinikum Münster
Albert-Schweitzer-Campus 1
48149 Münster


7. Glioblastomtherapie – Wo geht es hin?
Professor Dr. med. Marc-Eric Halatsch

leitender Oberarzt
Klinik für Neurochirurgie
Universitätsklinikum Ulm
Albert-Einstein-Allee 23
89081 Ulm


8. Psychoonkologische Unterstützung für Betroffene und Angehörige
Dr. med. Mirjam Renovanz

Oberärztin
Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie
Universitätsmedizin der JGU Mainz
Langenbeckstraße 1
55131 Mainz

« Letzte Änderung: 29. September 2019, 01:48:12 von KaSy »
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Der Hirntumor hat einen geänderten und deswegen nicht weniger wertvollen Menschen aus uns gemacht!

Offline KaSy

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Re:Berichte vom 36. HT-Info-Tag am 9. Mai 2015 im Würzburg
« Antwort #1 am: 15. Mai 2015, 21:09:38 »
36. Hirntumor-Informationstag am 9. Mai 2015 in Würzburg

1. Operative Therapie von Meningeomen
Privat-Dozent Dr. med. Mario Löhr

Leitender Oberarzt
Neurochirurgische Klinik und Poliklinik
Universitätsklinikum Würzburg
Josef-Schneider-Straße 11
97080 Würzburg

Was sind Meningeome
Meningeome sind eine besondere Form der Hirntumore.
Sie gehen von der harten Hirnhaut (Dura) aus, wachsen meist langsam und (das Gehirn) verdrängend.
Wenn sie infiltrierend (in ihre Umgebung hinein) wachsen, dann sind meist die Knochen betroffen und die Meningeome können dann durch die Haut tastbar sein.
Meningeome sind meist gutartig (WHO I).
Sie kommen doppelt so häufig vor wie Glioblastome.
Das Durchschnittsalter die bei Neuerkrankungen bei 65 Jahren.
Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer. Man hat festgestellt, dass Meningeome zum Teil Progesteron- und / oder Östrogen-Rezeptoren (weibliche Geschlechtshormone) auf ihren Zellen tragen, die das Tumorwachstum steuern.
Bei der Operation von Meningeomen muss die Dura mit entfernt werden.

Einteilung der Meningeome
Die Weltgesundheitsorganisation WHO unterscheidet die Meningeome bezüglich ihrer Beschaffenheit in 13 Subtypen, was aber für die Operation wenig bedeutsam ist.
Nach ihrer Aggressivität bzw. ihrer Zellteilungsrate werden sie in drei Gruppen eingeteilt:
WHO I : gutartig (benigne)
WHO II : atypisch
WHO III : anaplastisch (bösartig, maligne)

Diagnostik
CT: (Computertomograph, verwendet Röntgenstrahlen) Die Erstdiagnose findet mit einem CT ohne und mit Kontrastmittel statt.
MRT: (Magnetresonanztomographie, verwendet Magnetfelder, liefert unterschiedliche Informationen über das untersuchte Gewebe ) Eine deutlich bessere Erkennbarkeit erreicht man mit dem MRT ohne und mit Kontrastmittel.
Angiographie: (Darstellung der Blutgefäße mittels eines in die Gefäße injizierten Kontrastmittels) Hirntumoren werden überwiegend über die äußeren Halsschlagadern versorgt. Im Angiogramm wird der Tumor als Konzentration der Gefäße sichtbar, die durch ihn gebildet werden. Die Angiographie wird jetzt seltener als Diagnosemethode genutzt. Sie wird jedoch mitunter zur Embolisation eingesetzt. Dabei führt man Gefäß verstopfende Kunststoffteilchen in die den Tumor versorgenden Gefäße ein, um ihn von der Blut- und damit auch der Sauerstoffversorgung abzuklemmen. Das funktioniert jedoch nur vorüber gehend, da sich der Tumor neue Wege der Versorgung sucht bzw. selber herstellt.
PET: (Positronen-Emissions-Tomographie, nuklearmedizinische Methode, verwendet schwach radioaktive Substanzen) Die PET ist dazu geeignet, die Stoffwechselaktivität von Hirntumoren, auch bei Meningeomen, sichtbar zu machen.

Entscheidend ist nicht, ob alle diese bildgebenden Verfahren durchgeführt werden, sondern dass für die Operation dreidimensionale Bilder hergestellt werden können.

Lokalisation (Ort) der Meningeome
21 % sind parasagittal, sie können Blutgefäße verschließen, es wachsen dann neue Gefäße
15 % befinden sich an der Konvexität, also am Schädelknochen
13 % liegen am Tuberculum sellae in der Schädelbasis (im unteren Gehirn), sie beeinträchtigen die Seh- und Augenmuskelnerven
Weitere Lokalisationen:
Keilbeinflügel (etwa hinter der Augenhöhle)
Olfaktoriusrinne (nahe den Sehnerven)
Falx cerebri (an den Hirnhäuten zwischen den Hirnhälften)
Tentorium cerebelli (Kleinhirn in der hinteren Schädelgrube)
Spinale Menigeome (in der Wirbelsäule)
Multiple Meningeome (mehrere, an verschiedenen Stellen, evtl. verschiedenartig)

Zystische Meningeome (haben Hohlräume und Flüssigkeitsansammlungen) sind häufiger atypisch (WHO II), es besteht eine Verwechslungsgefahr mit Gliomen


Therapie (Behandlung) der Meningeome

- Die Verlaufskontrolle alle ein bis zwei Jahre mit MRT genügt bei kleinen, symptomfreien Meningeomen, so lange die Bilder unverändert sind.

- Die Operation:
Für die verschiedenen Lokalisationen im Gehirn sind in den letzten Jahren immer mehr Zugangswege gefunden worden. (Für bessere Erfolge und kürzere OP-Zeiten sollten die Zugangswege kürzer sein, sie sollten aber auch kosmetisch kaum sichtbare Narben hinterlassen.) Wenn ein Knochendeckel entfernt werden muss, so muss dieser Teil des Schädels der Größe des Meningeoms entsprechen, damit der Tumor mit der Dura ohne Hirnschädigung entfernt werden kann. Die Dura wird mit körpereigenem oder künstlichem Material ersetzt.
Es wird mit dem Operationsmikroskop gearbeitet.
Während der OP kann mittels intraoperativem Ultraschall die Tumorentfernung geprüft werden.  (Ultraschallbilder stellen Weichteile, also auch Tumore, sehr gut dar und ergänzen die bekannten bildgebenden Verfahren, die für die Neuronavigation mit genutzt werden. Des weiteren kann mit Ultraschall die Härte und die Dicke des Gewebes gemessen werden. Wenn man die   Ultraschallmesstechnik direkt in chirurgische Instrumente integriert, ermöglicht sie während der Operation eine genauere Arbeit.)
Aus den vorhandenen MRT- und gegebenenfalls weiteren Bildern werden dreidimensionale Bilder für die Neuronavigation hergestellt. (Diese dienen bereits vor der Operation der OP-Planung und stehen dem Neurochirurgen während der OP am Bildschirm zur Verfügung.)
Ein weiteres Verfahren, das „intraoperative MRT oder CT“, ermöglicht während der Operation eine Verlaufskontrolle, die jedoch bei gutartigen Meningeomen (WHO I) nicht erforderlich ist.
Bei bestimmten Lokalisationen in der Nähe wichtiger Funktionsbereiche des Gehirns wird das Elektrophysiologische Monitoring während der Operation genutzt, um direkt bei der Entfernung an diesen Gehirnbereichen eine Funktionskontrolle durchführen zu können. Dabei wird der Patient geweckt (Wach-OP), wenn dieses Gebiet erreicht wurde. Nun wird getestet, wie weit in den betreffenden Gehirnbereich hinein operiert werden kann. Sobald z.B. die Sprache oder Bewegungen beeinträchtigt werden, muss die Operation an dieser Stelle abgebrochen werden und ein Tumorrest muss verbleiben, um die Hirnfunktionen zu erhalten.
Nach der Operation erfolgt eine Verlaufskontrolle mit MRT mit und ohne Kontrastmittel über mehrere Jahre in länger werdenden Abständen, wenn die Bilder unverändert bleiben.

- Die Strahlentherapie kann in Form der Radiochirurgie als Einzeitbestrahlung mit Gammaknife, Cyberknife bei kleinen Meningeomen die Operation eventuell ersetzen.
Die Strahlentherapie wird standardmäßig bei Wachstum z.B. eines Resttumors bzw. bei Rezidiven konventionell durchgeführt. An meist 30 Arbeitstagen erfolgt die zielgenaue und computergestützte Bestrahlung fraktioniert, also in kleinen Einheiten, die sich im Tumor zur Gesamtdosis von etwa 60 Gy (Einheit der Strahlendosis Gray) summieren und den gesunden Hirnzellen in den Zwischenzeiten den Selbsterhalt ermöglichen.

Wenn eine Strahlentherapie im Anschluss an eine Operation erfolgen muss, sollten die Haut (Narbenbereiche) verträglich abgeheilt sowie Ödeme möglichst verschwunden sein, bevor mit der Bestrahlung begonnen werden kann.

Aussichten nach der Operation – Heilung?
Die Radikalität der Operation ist mit ausschlaggebend für den Heilungserfolg.
Hierfür gibt es eine Einteilung, die nach Simpson bezeichnet wird. Eine supratotale, also vollständige Entfernung wird mit Simpson I eingestuft. Subtotale, also unvollständige Tumorentfernungen werden je nach dem entfernten Anteil mit höheren Simpson-Graden (bis V) eingestuft. (Diese Einstufung ist Grundlage für die Fortsetzung der Therapie und die Kontrollabstände sowie ein Maß für die Rezidivwahrscheinlichkeit.
Bei gutartigen Menigeomen besteht eine gute Chance der dauerhaften Heilung.


KaSy
(Kursiv gedruckte Textteile von KaSy)
« Letzte Änderung: 29. September 2019, 01:48:34 von KaSy »
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Re:Berichte vom 36. HT-Info-Tag am 9. Mai 2015 im Würzburg
« Antwort #2 am: 17. Mai 2015, 23:12:44 »
36. Hirntumor-Informationstag am 9. Mai 2015 in Würzburg

2. Neue Möglichkeiten der Strahlentherapie
Professor Dr. med. rer. nat. Jürgen Debus
Ärztlicher Direktor
Klinik für RadioOnkologie und Strahlentherapie
Universitätsklinikum Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 400
69120 Heidelberg

Vorbemerkungen
Für eine Strahlentherapie muss eine Indikation (Notwendigkeit) gegeben sein.
Dann muss das Zielvolumen definiert (festgelegt) werden. (Unter dem Zielvolumen versteht der Strahlentherapeut nicht nur den gesamten Tumor, sondern es wird festgelegt, welche Tumorbereiche auf Grund ihrer unterschiedlichen Aggressivität mit welcher Strahlendosis zu bestrahlen sind.) Die Strahlendosis wird in Gray (1 Gy) angegeben. 1 Gray ist eine Dosis, die zu einer äußerst minimalen Erwärmung im bestrahlten Gewebe führt.
Mit einer virtuellen Therapie-Planung wird die Bestrahlung individuell für jeden Patienten bzw. jeden Tumor vorbereitet. Dazu wird zusätzlich zu dem bereits vorliegenden Bildmaterial ein Planungs-CT durchgeführt.

Das Ziel der Strahlentherapie besteht darin, die Erbinformation jeder Tumorzelle so zu verändern, dass sich die Zelle nicht mehr teilen kann.
Die Tumorzelle hat „vergessen“, dass sie aufhören soll, sich zu teilen. Also teilen sie sich weiter und treten in Kooperation mit dem umliegenden Gewebe. Die Zellen haben auch vergessen, dass sie irgendwann sterben sollen.

Das Problem der Strahlentherapie besteht darin, dass man sowohl die Strahlen als auch den Tumor nicht sehen kann. Man muss also ein unsichtbares Ziel mit einem unsichtbaren Instrument treffen.
Um den Tumor sichtbar zu machen, nutzt man die CT- Bilder, die zu einem (dreidimensionalen) 3D-Bild zusammengestellt werden.
Nun sieht man den Tumor. Aber wie viel von dem, was im CT sichtbar geworden ist, ist tatsächlich Tumorgewebe? Das kann mit einer PET-Untersuchung festgestellt werden, aus deren Bildern ersichtlich wird, in welchen Bereichen Stoffwechselvorgänge aktiv sind.
(PET: Positronen-Emissions-Tomographie, nuklearmedizinische Methode, verwendet schwach radioaktive Substanzen)

Nun sind die Voraussetzungen für den individuellen Bestrahlungsplan gegeben, dessen Erstellung mehrere Stunden dauert. Für die Planung werden die Ergebnisse der verschiedenen Diagnosemethoden genutzt. Es steht damit eine multimediale Bildgebung zur Verfügung.
Für die Bestrahlung wird eine Genauigkeit von 1 mm (für jeden Teilbereich des Tumors) gefordert.
Die optimale Strahlendosis erzielt eine möglichst gute Wirkung und hat möglichst wenige schädliche Nebenwirkungen.
Mit einer sehr genauen Dosierung kann es sogar möglich sein, den (vorübergehenden oder dauerhaften) Haarausfall zu vermeiden.
Um die Wirkung zu verbessern und dennoch das gesunde Gewebe weitgehend zu schonen, wird die
IMRT, die Intensitätsmodulierte Radiotherapie angewendet, bei der die Strahlen aus verschiedenen Richtungen zum Tumor geschickt werden.


Statistiken dienen den Ärzten dazu, verschiedene Therapien bezüglich ihrer Erfolgsrate zu vergleichen, sie beschreiben nicht die individuelle Rate!
Jeder Tumor ist bei jedem Patienten individuell!
Statistische prozentuale Angaben sind nicht für den Patienten gültig und auch nicht sinnvoll!
Wenn eine bestimmte Tumorart mit einer Wahrscheinlichkeit von „nur“ 5 % auftritt, was nützt diese geringe Rate dem Patienten, der doch an diesem Tumor erkrankt? Wenn bei diesem Tumor die Heilungsaussicht so gering ist, dass 90 % daran sterben, dann bedeutet das doch nicht, dass gerade dieser Patient nicht zu den 10 % der Überlebenden gehören kann! Und was hilft die Statistik dem Patienten, dessen Hirntumor in 90 % der Fälle erfolgreich therapiert werden kann, wenn er zu den anderen 10 % gehört.


Absehbare Schäden
Bei Tumoren mit einem unklaren Rand, wie z.B. bei einem Astrozytom, WHO III, sind Schäden entweder schon da oder können nicht vermieden werden.
Wie geht man mit solchen erwarteten Schädigungen um?
In diesen Fällen ist das individuelle Beratungsgespräch mit dem Patienten unabdingbar. Die Ärzte müssen ergründen, was dem Patienten wichtig ist.
Die einen wollen den Tumor auf jeden Fall loswerden, weil sie unbedingt leben wollen. Dabei gehen sie das Risiko bewusst ein, dass sie Schäden erleiden und stellen sich darauf ein, mit diesen Folgen zu leben, weiter zu leben!
Anderen Patienten ist ihre Lebensqualität sehr wichtig. Sie stellen sich lieber darauf ein, die ihnen verbleibende Lebenszeit so gut wie möglich zu nutzen, auszunutzen, als sich auf den Verlust bestimmter Fähigkeiten, wie z.B. Sehen oder Laufen, einzulassen.

Konferenz der Weltgesundheitsorganisation WHO im Juni 2015
Ende Juni 2015 wird die WHO in Deutschland in Heidelberg in einer Konferenz über eine Veränderung der Einstufungen der WHO-Graduierungen von Tumoren beraten. Seit einiger Zeit sind neue Faktoren insbesondere auf genetischem und molekularem Gebiet hinzugekommen, die eine weiter gehende Diagnostik ermöglichen. Die genauere Bestimmung der Tumorarten mit Hilfe von genetischen Markern spielt bereits jetzt eine Rolle bei der Wahl der individuellen Erfolg versprechenden Therapiekombination aus den verschiedenen Operations-, Bestrahlungs- und Chemotherapie-Möglichkeiten.
Neu ist auch, dass es geänderte Vorgehensweisen bezüglich der Rezidivtherapien gibt. Während bisher eine weitere Operation oder Bestrahlung an der gleichen Stelle für nicht durchführbar gehalten wurde, geht man nach aussagekräftigen Studien mittlerweile davon aus, dass an den gleichen Stellen alle Therapie-Optionen wiederholt bestehen und auch durchgeführt werden sollen.

Bestrahlungsarten
Röntgenstrahlen gehen durch den Menschen hindurch, deswegen kann man sie nutzen, um Bilder vom Inneren des Körpers zu erhalten. Die Strahlen für die Strahlentherapie sollen aber im Körper verbleiben und möglichst ihre optimale Dosis im Tumor erreichen. Dafür eignen sich Schwerionen.
Profitieren die Patienten von einer solchen Teilchenstrahlung?
Die Teilchenstrahlung ermöglicht die Bestrahlung schwangerer Frauen bei gleichzeitigem Schutz des Fötus.
Sie hat vor allem bei Kindern ihr Einsatzgebiet, bei Medulloblastomen, Keimzelltumoren (z.B. Dermoidzysten) und Tumoren des Rückenmarks. (Kinder befinden sich im Wachstum, weswegen sich ihre Zellen aktiver teilen. Durch die Röntgenstrahlen kann es zu schwer reparablen Schädigungen kommen, da die Reparaturmechanismen der Zellen noch nicht so wie bei Erwachsenen funktionieren. Insbesondere kann es zu Wachstumsproblemen kommen.)

Bei der Teilchenstrahlung handelt es sich um ein neues Verfahren, das in klinischen Studien erprobt wird. Man will die verschiedenen Bestrahlungsarten unter bestimmten gleichen Voraussetzungen vergleichen können. Dabei wird die jeweils verwendete Strahlendosis mit dem Effekt für den Patienten in einen Zusammenhang gebracht. Das Ziel ist, dass die Überlebensrate gut sein muss.
(Die Teilchenstrahlung soll nicht andere Strahlenarten ersetzen, sondern sie stellt eine zusätzliche Möglichkeit für die Patienten dar, bei denen bisher keine Strahlentherapie möglich oder nur mit schweren Nebenwirkungen verbunden war.)

Die Patienten sind an der besten Behandlungsqualität interessiert. Für sie steht die Frage: Was ist Qualität in der Medizin? An welche Ärzte, Krankenhäuser, Behandlungszentren sollten sich die Hirntumorpatienten wenden? Bei der Suche wird nach Erfahrungswerten gefragt. Dazu muss man wissen, dass Erfahrungswerte einerseits für die Behandlung bestimmter Tumorarten und andererseits für das Vorhandensein und den Umgang mit bestimmten Geräten gelten.
Was ein gutes Tumorzentrum ist, das weiß keiner! Hier treffen verschiedene Qualitäten zusammen:
- Strukturqualität (Ausstattung mit Geräten, ...)
- Prozessqualität (sicherer Behandlungsablauf, aufeinander abgestimmtes Personal, Tumorkonferenzen, ...)
- Ergebnisqualität (Therapieerfolg, ...)
- Sozialqualität (Zuwendung zum Patienten durch die Ärzte und das Krankenhaus-Personal, ...)

Für den Patienten stellen sich bei der Wahl die Fragen, ob er den Schwerpunkt auf ein freundliches Arzt- Gespräch legt, ob er die neueste Medizintechnik vorfinden möchte, ob er auf die Erfahrung eines Arztes Wert legt oder ob sein Arzt immer wieder neueste Forschungsergebnisse erprobt, …

(All diese Qualitäten kann kein Arzt aufweisen, da sich die gewünschten Eigenschaften teilweise widersprechen. Wünschenswert wäre es für uns Patienten, wenn Ärzte mit verschiedenen Qualitäten in einem Behandlungszentrum einander ergänzend zusammenarbeiten. KaSy)

„Ausbehandelt“ gibt es nicht!

Aus der Patientenfragerunde

Cortison sollte möglichst nicht eingesetzt werden und wenn es erforderlich ist, dann möglichst kurz.
(Cortison ist ein den Stoffwechsel anregendes körpereigenes Hormon, das normalerweise nur bei Gefahr ausgeschüttet wird, um dem Menschen die Flucht oder den Kampf zu ermöglichen.)
Bei einer Langzeittherapie hat es Nachteile, da es einen hohen Energieverbrauch anregt. Es steigert den Appetit und führt dadurch zur Gewichtszunahme. Es lässt den Körper kaum zur Ruhe kommen, wodurch Schlafprobleme entstehen. Es hat Auswirkung auf die Muskeln, die ständig angeregt werden.
Die Vorteile sind, dass Cortison rasch entzündungshemmend und gegen Ödeme wirkt.

Fahrtüchtigkeit nach Bestrahlungen
(Während der Strahlentherapie gilt man als fahruntüchtig und erhält (in Deutschland) vom Strahlentherapeuten eine Ärztliche Verordnung für die Fahrten zur Bestrahlung, welche durch die Krankenkassen organisiert und, bis auf die Zuzahlungen für die erste und letzte Fahrt, finanziert werden.)
Für die Zeit nach der Strahlentherapie wird je nach Bestrahlungsart und -umfang empfohlen, etwa sechs Wochen bis drei Monate nicht Auto zu fahren. Das liegt in der Selbstverantwortung der Patienten. Die Ärzte übernehmen wegen der Unvorhersehbarkeit eventuell eintretender Probleme die Verantwortung nicht.

Rezidivsituation
Im Falle eines Rezidives sollte noch einmal eine Biopsie durchgeführt werden, um mit einer histologischen Untersuchung festzustellen, ob es sich womöglich um eine andere als die zuerst diagnostizierte Tumorart handelt. Es kann jetzt neue Therapien geben, die bessere Erfolge erzielen.

Weitere Bestrahlungen im vorbestrahlten Bereich bei Meningeomen WHO II und III
Die erneute Bestrahlung ist abhängig von den vorherigen Bestrahlungsfeldern!
Es können bei einer erneuten Bestrahlung Nebenwirkungen auftreten, die die Lebensqualität des Patienten einschränken. Es muss mit dem Patienten abgestimmt werden, ob er damit leben möchte, wenn durch die erneute Bestrahlung der Tumor reduziert wird.
(Prof. Halatsch aus Ulm sagte an anderer Stelle, dass Bestrahlungen von Meningeomen das Tumorrisiko erhöhen können.)

Trigenimus-Neuralgie bei Meningeomen
Es ist eine äußerst schmerzhafte Form des Gesichtsschmerzes durch einen Reizungszustand des fünften Hirnnerven, des Nervus trigenimus.
Das kann bei Meningeomen vorkommen, die in die Löcher hineingewachsen sind, durch die die Gesichtsnerven verlaufen. Diese Reizzustände sind bereits durch das Meningeom entstanden oder können durch die Meningeom-OP verursacht worden sein. Die Strahlentherapie kann hier nichts bewirken.

Risiko Strahlennekrose
Durch den Einsatz moderner Techniken geschieht das nur noch sehr selten, bei weniger als 1 % der bestrahlten Patienten.

Novo Cure TTF
Es ist ein Therapieversuch mit elektromagnetischen Feldern. Der Patient hat Elektroden am Kopf und kann sie selbst stimulieren. Es gibt erste gute Studien. Die Therapie könnte eingeführt werden. Ein Problem besteht eventuell darin, wie die Patienten mit dem Tragen der Elektroden am Kopf zurecht kommen.

Das ist ein neuer Therapieversuch für erwachsene Patienten mit GBM (Glioblastom multiforma), bei denen die Strahlen- und Chemotherapiemöglichkeiten ausgeschöpft scheinen. TTF ist die Abkürzung für „Tumor Therapie Fields“ („Tumor Therapie Felder“). Das sind elektrische Felder geringer Intensität, die die Zellteilung der Tumoren durch Wechselwirkungen mit bestimmten „Schlüssel-Molekülen“ während der Zellteilung stören bzw. verhindern sollen. Es sind einige erfolgreiche Studien (bis Phase III) gelaufen, die durch den Züricher Arzt Roger Stupp (vgl. Stupp-Schema bei der Chemotherapie!) auf der Jahreskonferenz 2015 der „American Society of Clinical Oncology“ (Amerikanischen Gesellschaft für klinische Onkologie) in Chicago in Kürze vorgestellt werden sollen. Dort soll sie als Standardtherapie empfohlen werden.

Pseudoprogression eines Tumors durch die Bestrahlung
Wenn durch die Strahlen die Blut-Hirn-Schranke gestört wird, dann kann es in den ersten sechs Monaten nach der Strahlentherapie auf den MRT-Bildern so scheinen, als ob der Tumor größer geworden ist. Sollte so etwas auch nach dieser Zeit noch so erscheinen, dann muss man das genauer anschauen.

Wie geht man mit Zufallsbefunden um
Heutzutage werden immer häufiger CT- und MRT-Untersuchungen vorgenommen. Dabei können im Kopf Tumore entdeckt werden, die nicht als Ursache für die vorliegenden Beschwerden in Frage kommen. Solche Zufallsbefunde können ohne Bedeutung sein. Wichtig ist, ob es damit zusammenhängende Beschwerden oder neurologische Ausfälle gibt. (Ein Neurochirurg sollte sich diese Befunde anschauen und entscheiden, ob und in welchen Abständen der entdeckte Tumor beobachtet werden sollte bzw. ob eine Therapie einzuleiten ist.)
Wir wollen nicht die Bilder behandeln, sondern den Menschen!


KaSy
(Kursiv gedruckte Textteile von KaSy)

« Letzte Änderung: 29. September 2019, 01:48:53 von KaSy »
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Offline KaSy

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Re:Berichte vom 36. HT-Info-Tag am 9. Mai 2015 im Würzburg
« Antwort #3 am: 20. Mai 2015, 16:40:47 »
36. Hirntumor-Informationstag am 9. Mai 2015 in Würzburg

3. Therapie epileptischer Anfälle bei Hirntumoren
Dr. Günter Krämer
Neurologe und Epileptologe
Neurozentrum Bellevue
Theaterstraße 8
CH 8001 Zürich

Vorbemerkungen
Epileptische Anfälle müssen nicht immer mit sichtbaren Zuckungen, Umfallen und zeitweiser Bewusstlosigkeit zu tun haben, so wie es die übliche Vorstellung ist. Es gibt eine Vielzahl epileptischer Anfälle, von denen einige nur der Betroffene spürt und die für den Außenstehenden unbemerkt bleiben.
Die Gesamtheit der Anfälle setzt sich wie folgt zusammen:
23% Grand mal Anfälle; 14 % einfach fokale Anfälle; 36 % komplex fokale Anfälle; 7 % Anfälle unklaren Ursprungs; 6 % Absencen; 3 % myoklonische Anfälle; 8 % andere generalisierte Anfälle und 3 % nicht klassifizierte Typen.

Wenn Hirntumoren die Ursache von epileptischen Anfällen sind, dann ist ihr Auftreten von der Art des Tumors und seiner Lage abhängig.

Die Epilepsie-Therapie ist immer individuell!
Das gleiche Medikament wirkt nicht bei jedem gleich!

Wann soll man epileptische Anfälle behandeln?
Eine prophylaktische, also vorsorgliche Behandlung einer Epilepsie hat keinen Nutzen!

Im Gegenteil: Anti-epileptische Medikamente haben allgemeine Nebenwirkungen, die die Lebensqualität einschränken können, z.B. können sie sehr müde machen.
Sie können die Reizbarkeit dramatisch steigern. Der Patient hat dann zwar keine Anfälle, ist aber für seine Mitmenschen kaum noch zu ertragen und leidet selbst darunter.
Die Nebenwirkungen der anti-epileptischen Medikamente können auch schädlich für eventuell erforderliche weitere Therapien (z.B. Chemotherapie) sein.

Tatsächlich gibt es Zusammenhänge zwischen dem Auftreten von Hirntumoren und dem Auftreten von epileptischen Anfällen. Deshalb wurde (und wird mitunter immer noch) einem Patienten, bei dem ein Hirntumor festgestellt wurde, vorsorglich anti-epileptische Medikamente gegeben, obwohl dieser noch nie einen epileptischen Anfall gehabt hat. Man ist dabei davon ausgegangen, dass er ja einen Anfall bekommen könnte. Insbesondere wollte man es vermeiden, dass während der Operation des Hirntumors ein solcher Anfall erstmalig auftritt, was ein zusätzliches Problem der OP sein würde. An der vorsorglichen Epilepsie-Therapie hätte also sowohl der Arzt als auch der Patient ein Interesse.
Wenn epileptische Medikamente gegeben werden, um die Operation abzuschirmen, dann sollte dies nur kurzzeitig, also etwa eine Woche lang, geschehen.

Bei epileptischen Anfällen, die für den Patienten nicht einschränkend sind, müssen keine Medikamente gegeben werden!
Es gibt epileptische Anfälle, die der Patient nur selber bemerkt. Das kann z.B. ein Kribbeln am Arm sein oder ein eigenartiges Gefühl auf der Zunge. Er kann damit umgehen und es belastet ihn nicht.  Wenn das so bleibt, dann kann auf Medikamente verzichtet werden. Das sollte in individueller Absprache mit dem Patienten erfolgen.

Die Therapie der Epilepsie
Medikamente beseitigen nicht die Ursache der Epilepsie!
Sie verhindern nur die Anfälle, bzw. schwächen sie ab.

Es sind mittlerweile sehr viele Arten anti-epileptischer Medikamente entwickelt worden. Zur Zeit sind etwa 30 Medikamente aus der ersten, zweiten und dritten Generation verfügbar.

Als Ziele der Therapie sollen erreicht werden:
- ein Maximum der Wirksamkeit
- ein Minimum der Nebenwirkungen
- ein Optimum der Lebensqualität

Die Wirksamkeit aller zur Verfügung stehenden Medikamente ist relativ gleich.
Bei neuen Medikamenten kommt es darauf an, dass ihre Verträglichkeit besser sein muss.
Sie sollten (u.a.) möglichst nicht müde machen, keinen Schwindel hervorrufen und das Blutbild nicht beeinträchtigen. Gerade bei Hirntumorpatienten sollten sie wegen eventueller Begleittherapien  (Chemotherapie) möglichst keine Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten haben. Die gegenseitige Wirkungsverstärkung oder Wirkungsabschwächung erschwert die optimale Dosierung   der verschiedenen Mittel. Man nennt dies „pharmakogenetische Interaktion“.

Neuere Medikamente sind nicht unbedingt verträglicher als die bewährten Standard-Medikamente!
Die Vielfalt der vorhandenen Medikamente erlaubt den individuellen Einsatz des passenden Medikaments in der optimalen Dosis für die jeweilige Lebens- und Therapie-Situation. Es gibt jetzt anti-epileptische Medikamente, die auch bei geplanter Schwangerschaft genommen werden können.

Alternative Therapien
Es gibt eine Vielzahl von nicht medikamentösen Mitteln und Methoden, denen eine anti-epileptische Wirkung zugesprochen wird, die also alternativ die medikamentöse Therapie ersetzen sollen.
Dazu gehören Cannabis, Akupunktur/Akupressur, Biofeedback, Diäten, verschiedene Entspannungsverfahren, Homöopathie, Methoden zur Stressreduktion und viele andere.
All diese alternativen Therapien sind wenig sinnvoll.
Dr. Krämer nannte z.B. als Nachteil der ketogenen Diät, dass sie zu 90 % aus Fett besteht, weil  Kohlenhydrate und Eiweiße in nur minimalen Mengen aufgenommen werden. Die „moderne“ Atkins-Diät besteht zu 70 % aus Fett.

Allerdings ist es natürlich nicht schädlich, sich für zusätzliche Möglichkeiten zu interessieren Man sollte aber in Absprache mit seinem Arzt handeln.

Notfallmedikamente
Notfallmedikamente sind Mittel, die bei einem sich anbahnenden Anfall (z.B. so genannte Aura, mit der ein Anfall beginnen kann) oder zur Senkung der Anfallsbereitschaft kurzfristig genommen werden können.
Clobazam kann in der Dosis (5 mg – 0 – 10 mg) für ein bis drei Tage genommen werden.
Lorazepam (Handelsname* Tavor) kann in einer Dosis von 1 mg bis 2 mg genommen werden.

* (Die vortragenden Ärzte verzichteten generell auf die Nennung von Handelsnamen, da die Deutsche Hirntumorhilfe e.V. unabhängig von Pharmaunternehmen ist.)


Aus der Patientenfragerunde

Dürfen Epileptiker eine Flugreise unternehmen?
Epileptiker können, um sich für geplante Flüge oder Feiern vor Anfällen zu schützen, sich mit Lorazepam absichern.
Für eine gewisse Zeit danach besteht dann jedoch eine etwas erhöhte Anfallsbereitschaft!

Sollten Epileptiker bestimmte Sportarten meiden?
Die Ausübung auch riskanter Sportarten ist möglich, liegt aber natürlich im Ermessen des Patienten. Er habe z.B. einen Patienten, der problemlos Fallschirmsprünge absolviert habe, auch Tauchen könne man probieren.

Kann ein Glioblastom-Patient, der Anfälle hatte, die anti-epileptischen Medikamente irgendwann absetzen?
Er soll sie weiter nehmen und sich über seine Anfallsfreiheit freuen.

Sollte man bei Kindern von Hirntumorpatienten bzw. Epileptikern wegen der eventuellen Vererbbarkeit vorsorglich ein EEG* durchführen?
Nein! Ein EEG bei anfallsfreien Kindern stiftet nur Verwirrung, Angst und Vorbehalte.
 
(In der Gesellschaft bestehen Ängste, wie man mit epileptischen Anfällen umgehen soll. Dies spielt insbesondere in Kindereinrichtungen und Schulen eine Rolle, wo sich mitunter die Erzieher und Lehrer dem Umgang mit einem solchen Kind nicht gewachsen fühlen und befürchten, im Rahmen ihrer Fürsorge- und Aufsichtspflicht falsch zu handeln. Durch die erforderliche Mitteilung an die Erwachsenen und an die Kinder über die Besonderheit dieses Kindes kann es stigmatisiert werden. Es kann überbehütet oder gemieden werden. Auch die Familie würde unnötig in ständiger Sorge sein.)

* (EEG: Elektroenzephalogramm, misst Hirnströme, kann eventuell epileptische Anfälle zeigen)



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Re:Berichte vom 36. HT-Info-Tag am 9. Mai 2015 im Würzburg
« Antwort #4 am: 24. Mai 2015, 17:48:32 »
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Neue Klassifizierung der Gliome
Die Gliome werden in die folgenden Hirntumorarten unterteilt:
- diffuses Astrozytom (WHO II)
- anaplastisches Astrozytom (WHO III)
- Glioblastom (WHO IV)
Auf der Konferenz der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Juni 2015 wird es eine neue Klassifizierung der Gliome geben, da durch die genetischen Marker eine bessere Unterscheidung möglich ist.
Dies ist wichtig für eine zielgerichtete Therapie. Die „Subtypisierung“, also die Unterteilung in Subgruppen (Untergruppen) erfolgt nach dem Vorhandensein oder Fehlen bestimmter molekularer Marker. Beispielsweise haben Gliome des Subtyps IDH 1 mit dem molekularen Marker LOH 1p/19q (zur Zeit) eine bessere Therapiechance als Gliome dieses Subtyps, die diesen Marker nicht aufweisen.

Neue mögliche Behandlungsansätze
Wenn diagnostizierte Gliome diesen Subtypen zugeordnet werden können, kann das für die Patienten neue Behandlungsansätze ermöglichen.

Diffuse Astrozytome (WHO II) sollten in der ersten Therapie aggressiver behandelt werden. Je nach Voraussetzung sollten sofort nach der Operation die Bestrahlung und die Chemotherapie eingesetzt werden.

Anaplastische Astrozytome (WHO III) werden auf das Vorhandensein genetischer Marker*  untersucht, um sie durch die Zuordnung zu den entsprechenden Subtypen wirksamer behandeln zu können.

* IDH 1-MutationMutation im Isocitratdehydrogenase (IDH)-Gen von Glioblastomen
* MGMTO6-Methylguanin-DNS-Methyltransferase -Gen
* p 53-MutationAls so genannter „Wächter des Genoms“ ist das Protein p 53 an der Kontrolle des Zellzyklus, an der Reparatur geschädigter DNA und am programmierten Zelltod beteiligt. Wenn es mutiert ist, kann es diese Funktionen nicht mehr ausüben.
* LOH 1p/19qKombinierter Verlust der Allele (loss of heterozygosity, LOH) auf dem kurzen Arm von Chromosom 1 (1p) und dem langen Arm von Chromosom 19 (19q)

Beispielsweise spielt die IDH 1-Mutation eine Rolle im Tumorstoffwechsel. Wenn sie in entnommenen Zellen des Tumors nachgewiesen werden kann, dann haben alle Tumorzellen diese Mutation. Also können alle Tumorzellen mit einer speziellen Impftherapie abgetötet werden. (Die IDH 1-mutierten Zellen werden dazu benutzt, um das individuell wirksame Gegenmittel herzustellen.) Eine Studie zu dieser Therapie läuft.

Die neuen molekularen Ansätze haben jedoch keine Änderung gegenüber den bewährten Therapien ergeben.
Nach wie vor ist (im Anschluss an die Operation) die Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie mit Temozolomid (Temodal) am effektivsten.

Eine Ausnahme sind ältere Patienten über 70 Jahre, bei denen die Medikamente anders wirken.
Die Altersangabe 70 bezieht sich dabei nicht unbedingt auf das biologische Alter. Wesentlich ältere Menschen können durchaus geistig und körperlich fitter sein als 70-Jährige, während es 65-Jährige geben kann, die diesen Ansprüchen nicht mehr genügen. Das ist für das Ansprechen eines Patienten auf eine Therapie zu berücksichtigen.

Der MGMT-Marker sagt aus, ob jemand gegen eine Chemotherapie resistent ist. Wenn das bekannt ist, kann man die richtige Therapie wählen. Beispielsweise kann die Kombination aus Chemotherapie und Bestrahlung bei fehlendem MGMT deutlich weniger wirken als wenn man nur bestrahlt! (Die zusätzliche Chemotherapie wirkt sich also sogar schädlich auf die übliche Wirksamkeit der Bestrahlung aus!)

Glioblastome (WHO IV) können mit Bevacumizab (Avastin) behandelt werden.
Das ist ein  blutgefäßhemmender Faktor. Die Infusion dieses Mittels ist eine Antikörpertherapie, durch die die Blutversorgung der Tumoren eingeschränkt wird. (Tumoren bilden zu ihrer eigenen Versorgung Blutgefäße. Sie organisieren damit ihren eigenen Stoffwechsel, damit ihre Zellen am Leben bleiben  und sich weiter teilen können.)
Die Problematik der Therapie mit Bevacumizab besteht darin, dass die Tumoren in den MRT- Bildern nicht mehr sichtbar sind. Deshalb ist während dieser Therapie ist eine Zusatzkontrolle durch PET* unbedingt erforderlich, um die Stoffwechselvorgänge im Tumor sehen zu können.
* PETPositronen-Emissions-Tomographie, nuklearmedizinische Methode, verwendet schwach radioaktive Substanzen, die im stoffwechselaktiven Tumor aufleuchten

Bevacumizab hat keine lebensverlängernde Wirkung!
Aber es ermöglicht eine bessere Lebensqualität. Es ist weniger Cortison erforderlich.
Es besteht die Hoffnung, dass es in Europa zugelassen wird, denn gegenwärtig muss jedes Mal mit der Krankenkasse verhandelt werden, um es zu erhalten, wenn es vom Arzt verordnet wurde.


Aus der Patientenfragerunde

Genehmigung von Bevacumizab
Man sollte lokal schauen, zur Zeit werden in Bayern und Baden-Württemberg 90 % der Anträge durch die Krankenkassen genehmigt.

Frage nach Parvo-Viren
Alle Virustherapien haben das Problem, dass sie nur einen Teil der Tumorzellen abtöten, wenn man sie in den Tumor einbringt. Sie sind deshalb skeptisch zu betrachten.

Frage nach Methadon und anderen Alternativen
Es kursieren sehr viele Alternativen wie Methadon, grüner Tee, Aprikosenkerne und viele mehr.
Diese können wirken.
Sie sind aber nicht sicher.
Sie können schädliche Nebenwirkungen haben.
Studien dazu sind schwierig.
Der erste Studienversuch, den Frau Dr. Friesen aus Ulm begonnen hat, musste wegen Problemen mit der Atmung abgebrochen werden.

Frage nach Weihrauch
Weihrauch* ist eine Alternative zu Cortison zur Verringerung von Ödemen*. Es gibt jetzt aber außer Dexamethason und Prednisolon mehr gute Medikamente gegen Ödeme.
* Ödem:  Flüssigkeitsansammlung, die durch das Gehirn um den als Fremdkörper festgestellten Tumor herum gebildet wird, um sich gegen den Tumor und gegen die Tumortherapie (Bestrahlung, Chemotherapeutika) zu schützen. Ödeme verursachen einen erhöhten Druck im Kopf. Dadurch können verschiedene Beschwerden wie Kopfschmerzen, Müdigkeit, aber auch je nach ihrer Lage in der Nähe bestimmter Hirnstrukturen spezielle neurologische oder körperliche Probleme entstehen. Je größer ein Ödem ist und je länger es besteht, um so dramatischer können seine Folgen sein.
* Weihrauch:  indischer Weihrauch, H 15, Boswellia Serrata

Chemotherapie in Intervallen oder dauerhaft?
In Intervallen können hohe Dosen des Chemotherapeutikums gegeben werden, das ist eher besser als eine dauerhafte Therapie mit geringeren Dosen.

Haarausfall durch Chemotherapie?
Durch die Chemotherapie fallen fast immer die Haare aus, aber das ist immer reversibel, d.h. die Haare wachsen auf jeden Fall später wieder.

Sollte man vor oder während der Chemotherapie Anti-Tumor-Diäten machen?
Von Diätversuchen ist abzuraten.
Diäten haben fast keine nachweisbaren Effekte!
Man soll vor der Chemotherapie keine vorsorgliche Fastenzeit einlegen. Sie schwächt den Körper!
Besser ist auf jeden Fall eine ausgewogene Ernährung.

Können neue Therapien auch an Tieren getestet werden?
Bei Hirntumoren sind die Ergebnisse von Tierversuchen nicht auf Menschen übertragbar.


KaSy
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« Letzte Änderung: 29. September 2019, 01:49:37 von KaSy »
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Re:Berichte vom 36. HT-Info-Tag am 9. Mai 2015 im Würzburg
« Antwort #5 am: 31. Mai 2015, 18:43:20 »
36. Hirntumor-Informationstag am 9. Mai 2015 in Würzburg

5. Supportive Therapie bei Hirntumoren
Professor Dr. med. Dipl.-Psych. Peter Krauseneck
- im Ruhestand -
Er war viele Jahre Chefarzt der Neurologischen Klinik der Sozialstiftung Bamberg.

Supportive Maßnahmen im Verlauf der Erkrankung

Supportive (unterstützend, zusätzlich; auch als „komplementär“ bezeichnet) Maßnahmen sollen zu einer Verbesserung des Wohlbefindens während der Krankheit führen. Sie sollen den Allgemeinzustand des Patienten und seine Lebensqualität verbessern.
Dazu dienen auch professionelle stützende Gespräche, denn Hirntumorpatienten haben andere Probleme.
Sie benötigen in besonderem Maße eine psycho-onkologische Betreuung.
Psychische Veränderungen durch eine Hirntumorerkrankung sind viel schwerwiegender als z.B. konkrete Schmerzen oder Lähmungen.
Hierzu gehören u.a. die ständige oder immer wieder kehrende Angst vor einem Rezidiv sowie vor neurologischen Erscheinungen, die durch den Tumor ausgelöst werden.


Prinzipien

- Bei gutartigen Tumoren hat man (wegen ihres langsameren Wachstums und der geringeren Rezidivgefahr) etwas mehr Zeit bis zum Beginn der psychologischen Betreuung, während bei bösartigen Tumoren eine längere Dauer einer solchen Unterstützung einzuplanen ist.

- Ein kritischer, wachsamer, mitdenkender Hirntumor-Patient lebt länger als einer, der diese Krankheit gleichgültig hinnimmt. Es nützt allerdings auch nichts, sich zu „kasteien“, also in seinem eigenen Leben sehr viele Entbehrungen hinzunehmen, um dem Hirntumor zu schaden. Es geht um das richtige Maß zwischen der Beschäftigung mit der Krankheit und der eigenen Lebensqualität.

- Wichtig sind Arzt-Patienten-Gespräche, die in einem guten persönlichen Verhältnis und mit Sachverstand geführt werden. Die Kommunikation soll offen und direkt sein. (Die Schwere der Krankheit und deren mögliche Folgen sowie die Therapiemöglichkeiten und deren mögliche Folgen sollten nicht verschwiegen oder beschwichtigt werden, um den Patienten scheinbar zu schonen.)

- Das Internet als Informationsquelle genügt durchaus nicht! Als Hirntumor-Patient muss man kein Experte werden, was über das Internet sowieso nicht funktioniert. Aber man sollte sich (von den verschiedenen Fachleuten, von anderen Hirntumorpatienten, aus dem Internet, aus Informationsmaterialien) um so viele Kenntnisse bemühen, dass man wissend entscheiden kann.

- Der Patient ist das Maß der Dinge! (Er hat Vorrang vor den Wünschen der Fachärzte, vor den Interessen der Krankenhäuser und Krankenkassen, …!)

- Jeder Mensch hat Scheu, über eine Krankheit zu sprechen, die eventuell zum Tode führen kann. Gerade deswegen soll der Patient offen darüber reden! Das hilft ihm selbst und den anderen!

- Der Patient muss sich selbst kümmern! (Wer sonst? KaSy)

- Der Patient soll jede Chance zur Heilung seiner Krankheit nutzen, aber auch lebenswert leben!

- Der Patient soll ein gesundes, bewegtes, aktives Leben führen!

- Der Patient soll sich ausgewogen und gesund ernähren! Das „Aushungern“ des Tumors durch Diäten funktioniert nicht! Der Tumor holt sich auf anderen Wegen, was er braucht!

- Alternativtherapien sind ungesichert!
(siehe auch Berichte vom 32. HT-Info-Tag in Frankfurt am 04.05.2013; Vortrag 6a: „Alternative Medizin bei Tumorerkrankungen“; Prof. Dr. K. Münstedt, J. Hübner;
http://www.hirntumor.de/forum/index.php/topic,8967.msg643798.html#msg643798 
Auszug: Am häufigsten wird unter komplementärer Medizin eine Therapierichtung verstanden, die die wissenschaftliche Medizin ergänzt und die Krankheitskonzepte der wissenschaftlichen Medizin akzeptiert, während die alternative Medizin sich der wissenschaftlichen Medizin entgegenstellt und verschiedene eigene Konzepte zur Behandlung von Krankheiten hat. Dabei wird mit dem alternativen Einsatz suggeriert, dass diese Therapie sich direkt und effektiv gegen den Tumor richtet. Die Gefahr der Alternativmedizin besteht in verpassten Chancen auf eine Heilung oder zumindest Verbesserung der Krankheitssituation und in unkalkulierbaren Wechsel- und Nebenwirkungen.)


- Je teurer Zusatztherapien (supportive / komplementäre Therapien) sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie wirken.

- Der Hirntumorpatient sollte sich mit der Endlichkeit des Lebens auseinandersetzen. Das kann deutlich zur Angstbewältigung beitragen.


Praktische Tipps

- Der Patient und seine Familie sollten zu jeder Zeit aufgeklärt und durch die Phasen der Krankheit geführt werden.

- Anti-Epileptische Medikamente sollen nicht prophylaktisch (vorbeugend, ohne dass es einen Anfall gab) gegeben werden.

- Eine Thromboseprophylaxe ist unbedingt erforderlich bei und nach Operationen, bei Lähmungserscheinungen, während der Chemotherapie und während der Kortisontherapie.

- Durch die verschiedenen Tumor-Therapien kann die Immunabwehr der Hirntumorpatienten herabgesetzt werden. Deswegen soll der Patient auf Infektzeichen achten, z.B. Mundsoor (Pilzerkrankung), Entzündungen der Nasennebenhöhlen (Schnupfen, der länger andauert und mit Schmerzen neben der Nase und im Stirnbereich verbunden ist), Pneumonie (PCP) (trockener Husten mit Atemnot, der länger andauert), Blasen-Infekte, … Die Ursachen dieser Symptome sollten bei den onkologischen Fachärzten hinterfragt werden.

- Müdigkeit tritt bei Hirntumorpatienten oft auf. Sie kann viele verschiedene Ursachen haben: der Tumor selbst, Ödeme, Medikamente, Infekte, Anämie (Blutarmut), Schlafstörungen, Diabetes, Depressionen, Inaktivität.

- Zur Ödemtherapie sollte so wenig Cortison wie möglich und nur so viel Cortison wie nötig gegeben werden, da es bei einer Langzeitgabe u.a. zu einer Schwächung der Muskulatur führen kann. Es gibt mittlerweile weitere Medikamente, die gegen Ödeme eingesetzt werden können, z.B. Glycerin 85 % DAB oral und Prednisolon statt des bisher standardmäßigen Dexamethason.


Hinweise im Falle eines Rezidivs

- Im Falle eines Rezidivs sind alle Therapiemöglichkeiten noch einmal zu prüfen:
   - Re-Operation (erneute Operation)
   - Re-Bestrahlung (erneute Bestrahlung an der selben Stelle)
   - erneute Chemotherapie
   - Studienteilnahme (Man hat eventuell höhere Chancen, da man in einer Studie intensiver betreut wird. Allerdings setzt man sich Therapien aus, für die erst Erfahrungen gesammelt werden.)
   - Verbesserung der Vorbedingungen für eine erneute Therapie

- Das Tumor-Material und das Blut sollen konserviert werden, um später weitere Untersuchungen zu ermöglichen, wenn man über neue Erkenntnisse, z.B. über genetische Marker, verfügt.

- Eine Re-Bestrahlung soll frühzeitig angemeldet werden, denn im Rezidivfall ist Eile geboten.


Zusammenfassung

An die Patienten

Informieren Sie sich über die wesentlichen Aspekte Ihrer Krankheit. Sie sollen wissend entscheiden, müssen aber keine Experten sein.

Wenn Sie sich (z.B. im Falle eines Rezidivs) unsicher sind, ob Sie einen weiteren Therapieversuch starten wollen, dann sollten Sie es auf jeden Fall versuchen, um es nicht später zu bereuen, wenn Sie nicht alles getan haben.

Der aktive, sich kritisch einbringende Patient mit einer ausgewogenen, gesunden und gelassenen Lebensweise lebt länger und erfüllter.



KaSy
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Re:Berichte vom 36. HT-Info-Tag am 9. Mai 2015 im Würzburg
« Antwort #6 am: 01. Juni 2015, 20:08:26 »
36. Hirntumor-Informationstag am 9. Mai 2015 in Würzburg

6. Was kann der Chirurg beim Rezidiv leisten?
Professor Dr. med. Walter Stummer
Direktor
Neurochirurgische Klinik
Universitätsklinikum Münster
Albert-Schweitzer-Campus 1
48149 Münster

Wenn bei einem Hirntumorpatienten ein Rezidiv festgestellt wird, findet als erstes ein Gespräch mit dem Patienten statt.
Dabei wird das Bildmaterial (MRT) gemeinsam angeschaut. Es muss die Frage geklärt werden, ob es sich tatsächlich um ein Rezidiv oder womöglich um eine Pseudoprogression handelt.
(Um dies zu unterscheiden, ist eine PET-Kontrolle sinnvoll, mit der die Stoffwechselaktivität des Tumors festgestellt werden kann.)
Es wird über die Therapiemöglichkeiten gesprochen, wobei auf die Vorstellungen und Wünsche des Patienten sowie dessen mögliche Mitarbeit eingegangen werden sollte.

Danach wird über das weitere Vorgehen in der Tumorkonferenz beraten und entschieden. Es sollte erwogen werden, ob die Rezidivtherapie von einem Hirntumorzentrum übernommen wird.

Mit allen Spezialisten sollten die Termine rasch vereinbart werden, denn „die Uhr tickt“.
(Rezidive haben bei jeder Hirntumorart ein schnelleres Wachstum als der Ersttumor.)

Dazu gehören die Fachleute der folgenden Spezialgebiete:
Neurochirurgie
Strahlentherapie
Pathologie (Feststellung der Tumorart)
Radioonkologie
Neurologie
Hämatologie (Blutanalysen)
Onkologie

Als weitere Bereiche können dazu gehören:
Psycho-Onkologie
Nuklearmedizin
Logopädie
Ergotherapie
Ernährungsberatung
Sozialarbeiter
Rehabilitation
Apotheke
onkologische Fachpflege
… … …


Mögliche Therapie-Ergänzungen in der Neurochirurgie

In der Rezidivtherapie sind stets individuelle Heilversuche möglich.
Die folgenden Methoden ersetzen nicht die Standardtherapien.

BCNU
Die Blut-Hirn-Schranke schützt das Gehirn vor dem Eindringen von Schadstoffen. Sie muss überwunden werden, wenn man die Hirntumoren mit chemotherapeutischen Medikamenten bekämpfen möchte.
Mit einer lokalen Chemotherapie kann man die Wirkung der Blut-Hirn-Schranke umgehen.
Dabei bringt der Neurochirurg im Verlauf der Operation nach dem weitest möglichen Entfernen des Tumors BCNU*-beschichtete Polymer-Plättchen in die Operations-Höhle ein. Im Verlaufe einer längeren Zeit zersetzen sich die Polymerplättchen und geben dabei kontinuierlich direkt an der  Tumorstelle das Medikament ab. Diese Implantate müssen später nicht entfernt werden, da sie vom Gewebe vollständig resorbiert werden.

* BCNU: Es ist ein bestimmtes Zytostatikum, also ein chemotherapeutisch wirksames Medikament, welches das Tumorwachstum hemmt. Es wird labortechnisch an bestimmte Polymere gekoppelt, die biologisch abbaubar sind. In der Form kleiner runder BCNU-Polymer-Plättchen werden sie in die Tumorhöhle eingebracht.

ALA
Bei sehr schlecht operablen Tumoren wird die ALA-Fluoreszens-gestützte Resektion angewandt. Dabei schluckt der Patient vor der Operation einen roten Farbstoff (Porphyrin). Dieser reichert sich nur im Hirntumor, speziell dem Glioblastom, an. Wenn man nun das Operationsgebiet mit Laserlicht bestrahlt, leuchten die Tumorzellen auf und der Neurochirurg kann genau erkennen, welche Zellen er entfernen muss.

Nano-Therm-Therapie
Die Nano-Therm-Therapie ist eine Art der photo-dynamischen Therapie (PDT). Die PDT wird insbesondere bei Hauttumoren und in der Augenheilkunde erfolgreich angewandt. Dabei wird eine durch Licht aktivierbare Substanz in die Tumoren oder die Gefäße eingebracht. Dann erfolgt die Bestrahlung mit dem Licht einer bestimmten Wellenlänge, wodurch das Gewebe genau dort erwärmt wird. Nun erfolgt an dieser Stelle eine Reaktion mit dem im Gewebe befindlichen Sauerstoff. Dadurch entstehen toxische Substanzen. Diese Giftstoffe schädigen die betreffenden Zellen.
Durch die PDT erhöht sich die Temperatur des Gewebes nur an dieser Stelle um wenige Grad Celsius, während das umliegende gesunde Gewebe geschont wird. Normalerweise findet die PDT einmalig statt, ist jedoch wiederholbar.

In der Hirntumortherapieist diese Methode unter bestimmten Voraussetzungen anwendbar, jedoch nicht frei von Nebenwirkungen.
Hirntumoren sind gegenüber Hitze empfindlich, jedoch darf das Gehirn nicht zu heiß werden. Also werden in den Tumor Eisen-Nano-Partikel (winzigste Eisenteilchen) eingebracht. Diese können jedoch nicht mit normalem Licht erreicht werden. Deshalb erfolgt die Erwärmung durch äußere Magnetfelder.
Diese sind jedoch stärker als die in der MRT verwendeten Magnetfelder. Daher stellt Metall im Körper, speziell im Kopf, für die Anwendung der Nano-Therm-Therapie ein deutlich größeres Problem dar.
Beispielsweise muss aus den Zähnen vor der Therapie alles Metall entfernt werden.
Eine weitere Tumor-Kontrolle mit MRT ist nach der Anwendung dieser Methode nicht mehr möglich, da die Bilder durch die Eisen-Nano-Partikel verfälscht werden.
Es muss dann jedes Mal eine FET- PET- Untersuchung erfolgen, die jedoch nicht überall möglich ist.


Aus der Patientenfragerunde

Können Rezidive auch nur mit der Strahlen- und/oder Chemotherapie behandelt werden?
Die Primär-Therapie muss immer eine Operation sein, wenn das noch möglich ist.
Der Tumor reagiert zu wenig auf Strahlen und Medikamente. Denn das Tumorrezidiv hat eine sehr hohe Teilungsrate. Dadurch kommt die Versorgung der Tumorzellen mit Blut und Sauerstoff nicht hinterher. Deswegen ist ein bestimmter Teil der Tumorzellen therapieresistent und es kann nicht gelingen, alle Tumorzellen durch die äußeren Einwirkungen der Strahlen- und Chemotherapie abzutöten.
Es sollte immer zuerst so viel wie möglich operativ vom Tumor entfernt werden, um die notwendigen weiteren Therapien erfolgreicher zu machen.

Welche neurologischen Schäden können Folgen der Operation sein?
Neurologische Schäden können durch die Operation entstehen, sie können aber auch bereits durch den Tumor bestanden haben.
Hörschäden sind relativ wenig problematisch, da die Funktion des Hörens von anderen Hirn-Arealen übernommen werden kann.
Schädigungen des Sehnerven sind nicht wieder herstellbar, betreffen jedoch oft nur ein Auge.
Schädigungen im Sprachbereich und im Bewegungsbereich können nur bedingt und mit viel Übung wieder hergestellt werden.
Kognitive Probleme, z.B. Gedächtnisschwierigkeiten, können auch problematisch sein.


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« Letzte Änderung: 29. September 2019, 01:50:08 von KaSy »
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Re:Berichte vom 36. HT-Info-Tag am 9. Mai 2015 im Würzburg
« Antwort #7 am: 11. Juni 2015, 20:28:26 »
36. Hirntumor-Informationstag am 9. Mai 2015 in Würzburg

7. Glioblastomtherapie – Wo geht es hin?

Professor Dr. med. Marc-Eric Halatsch

Leitender Oberarzt
Klinik für Neurochirurgie
Universitätsklinikum Ulm
Albert-Einstein-Allee 23
89081 Ulm

Für die Behandlung der Glioblastome gibt es seit mehreren Jahren die Operation, die Bestrahlung und die Chemotherapie, dennoch sind Glioblastome leider nicht kurativ (heilend) behandelbar.

Fortschritte gab es in den letzten Jahren bei der Resektionskontrolle während der Operation. Z.B. ist es in Ulm mit einem intraoperativem MRT möglich, während der OP zu kontrollieren, wie viel vom Tumor bereits entfernt wurde.

Als weitere neue zusätzliche Operations-Technik steht das intraoperative Neuromonitoring zur Verfügung.
Hierbei werden während der OP Gebiete des zu entfernenden Tumors mit Elektroden stimuliert, in denen sich Nervenbahnen befinden. Der Chirurg kann während des weiteren Operierens z.B. hören, wie sich der normale Ton verändert, wenn er an Nervenbahnen gerät, die er schonen sollte, um Folgeschäden durch die Operation zu vermeiden. (Ergänzung aus dem Beitrag von PD Dr. Alex Alfieri, Chefarzt der Klinik für Neurochirurgie der Ruppiner Kliniken, Neuruppin, am Welthirntumortag 2015)

Tumorbiologie:
Ein Tumor beginnt aus einzelnen Zellen zu wachsen, die sich im weiteren Verlauf unkontrolliert vermehren. Der Tumor nimmt nach außen an Größe zu. Die Versorgung des Tumors mit Nährstoffen genügt ab einer bestimmten Größe nicht mehr für die Erhaltung der Zellen im Inneren des Tumors und so sterben diese ab. Im Inneren eines Tumors befindet sich also nekrotisches Gewebe (hier: wegen Unterversorgung abgestorbene Tumorzellen, hier findet kein Stoffwechsel mehr statt). Das äußere vitale (lebende) Tumorgewebe ist stoffwechselaktiv und wächst immer weiter. Glioblastome wachsen infiltrativ, also in das Hirngewebe hinein.

Die Operation von Glioblastomen kann nicht „total“ sein, es wird stets mit verbleibenden Zellen zu rechnen sein.
Auch nach weiteren Therapien (Bestrahlung, Chemotherapie) werden kleinste Mengen (im Zehntausendstel-Bereich) der Zellen verbleiben.
Damit werden die Patienten aus der Standardtherapie entlassen.

GBM = Glioblastom Multiforma
Die Bezeichnung Glioblastom „Multiforma“ bedeutet, dass die Zellen eines GBM über die verschiedensten Eigenschaften verfügen, so dass es keine einheitliche Therapievariante für die GBM – Reste bzw. - Rezidive gibt.

Man muss also ein Mittel finden, das wie ein „Hauptschalter“ alle diese verschiedenen (heterogenen) Zellen abtötet („ausschaltet“).

Für den Tumor gibt es mehrere Versorgungszuflüsse. Wenn ein Zufluss gehemmt wird, verstärken sich die anderen Zuflüsse und damit bleibt der Gesamtzufluss für die Versorgung und den Stoffwechsel des Tumors gleich.

Die Hemmung eines Moleküls (Teilchen / Zelle des Tumors) hat gar keine Wirkung, da sie sofort durch das Wachstum anderer kompensiert (ausgeglichen) wird.

Man benötigt also einen „Cocktail“, der aus mehreren Mitteln besteht, die die heterogenen Restzellen des GBM abtöten.

Dabei soll drei Ziele gleichzeitig erreicht werden:
- Hemmung der Proliferation (Zellteilungsrate, Tempo des Tumor-Wachstums)
- Hemmung der Migration (Wanderung der Tumorzellen in das umliegende Hirngewebe)
- Hemmung der Invasion (Einschleusung der Tumorzellen in die Funktionsbereiche des Hirns)

Da das mit den bisherigen Methoden in der GBM- Rezidiv - Therapie nicht erfolgreich scheint und es seit einigen Jahren keine wesentlichen Therapiefortschritte gibt, soll ein Wechsel der Herangehensweise versucht werden.

Dazu läuft seit 2013 ein Therapie-Versuch mit dem „Off label“ - Gebrauch von Medikamenten.
Man nutzt dabei bekannte und bereits zugelassene Medikamente, die gegen andere Krankheiten wirken, um damit die GBM zu bekämpfen. Das geschieht erst in der Rezidiv – Therapie und nachdem dabei die Standardtherapien abgeschlossen werden müssen, weil sie keine Wirkung mehr erzielen.

Es handelt sich dabei konkret um einen Cocktail vieler zugelassener Medikamente in der jeweils zugelassenen Höchstdosis, auch wenn dabei die Gefahr von Wechselwirkungen besteht.
Es ist eine aggressive Therapie gegen einen aggressiven Gegner, das GBM.

Das CUSP9 – Protokoll bei Glioblastomen
Von einer Vielzahl möglicher geeigneter Medikamente hat eine extra gegründete internationale Forschergruppe die Zahl der Substanzen für den Cocktail auf neun reduziert. Dieser Cocktail bzw. die Methode hat die Bezeichung CUSP9 (Coordinated Undermining of Survival Paths with nine repurposed drugs). Es sind neun Medikamente, die auch gegen GBM wirken könnten, aber eigentlich für verschiedene andere Krankheiten gedacht waren, wofür sie entwickelt und geprüft wurden. Die Wirkstoffkombination setzt sich aus Mitteln gegen Übelkeit, Rheuma, Malaria, HIV und Bluthochdruck zusammen. Dazu kommen ein Antimykotikum und ein Antidepressivum, eine Substanz zum Alkoholentzug sowie ein Nahrungsergänzungsmittel. Außerdem wird Temozolomid gegeben.

Da man pro Substanz multiple (mehrfache) Effekte gegen die GBM erreichen kann, besteht die Hoffnung auf gegenseitige Wirkungsverstärkung gegen die GBM.

Beim Therapieversuch mit den Zellkulturen des Tumors eines GBM-Patienten testete man die Wirkung jeweils einer Substanz auf die Tumorzellen und stellte damit jeweils kaum eine Wirkung fest. Als man dann den Cocktail CUSP9 erprobte, war die Wirkung sehr gut. CUSP9 reduzierte das Tumorwachstum und die Tumorbildung auf fast Null. Die Verwendung von CUSP9 mit 10 % der Dosis der Medikamente erzielte eine gute, aber nicht die beste Wirkung.

In Ulm werden nach Abschluss der Standardtherapien nach Rezidiven ohne Heilungschance individuelle Heilversuche mit CUSP 9 durchgeführt.

Dabei wird der Patient zunächst für 18 Tage stationär aufgenommen. Nach und nach werden die einzelnen Medikamente dieses Cocktails in der jeweils halben Dosis eingeschlichen und zwar ein Medikament pro Tag. (Unter ärztlicher Überwachung wird so die Verträglichkeit kontrolliert.)
Dann erfolgt die Entlassung. Die Medikamente werden nun über die Apotheke bezogen und zu Hause auf die Maximaldosis gesteigert.
Die gesamte Therapie dauert etwa ein Jahr.


Fallbeispiele

Patient 1 seit 10/2014 CUSP9
69 Jahre alt
kein Rezidiv
stabiler Zustand

Patient 2 seit 11/2014 CUSP9
Nebenwirkung: Lungenentzündung und andere Krankheiten
deswegen Unterbrechung der Therapie, dadurch ging es dem Patienten schlechter
später bekam er wieder CUSP9 und es ging ihm besser
jetzt stabiler Zustand

Patientin 3 seit 03/2015 CUSP9
43 Jahre alt
innerhalb von drei Wochen Rückgang des Tumors

Patient 4 seit 04/2015 CUSP9
51 Jahre alt
gerade halbe Dosis eingeschlichen, jetzt entlassen



Es wird eine CUSP9 - Studie mit einer historischen Vergleichsgruppe angestrebt.

Es soll keine randomisierte (nach dem Zufallsprinzip) Studie sein, bei der für die Hälfte der Patienten die Chance des Misslingen der Therapie bekannt ist.


Aus der Patientenfragerunde:

Voraussetzungen des Patienten für CUSP9
Er sollte einen Karnofsky-Index von 70 haben.
(Das bedeutet z.B., dass er noch selbstständig Brötchen kaufen kann. Er kann also das Geld nehmen; den Weg zum Laden gehen; sagen, was er will; bezahlen; den Weg zurück finden.)
Bei einem schlechteren Allgemeinzustand könnte eventuell ein individueller Heilversuch erfolgen.

Wo ist die CUSP9-Therapie möglich?
Außer in Ulm wird sie in Bonn und Leipzig angeboten.
Das Problem für den Patienten ist, dass er im Laufe der einjährigen Therapie zu den wöchentlichen Kontrollen vor Ort sein muss. Prinzipiell könnte man auch einen Onkologen suchen, der für den Patienten zu Hause näher erreichbar ist. Das wird aber schwierig, da es kaum Onkologen gibt, die diesen Therapieversuch mittragen. Prof. Halatsch berichtete, er habe im Selbstversuch vier Wochen lang CUSP9 genommen, allerdings ohne Temozolomid.


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« Letzte Änderung: 29. September 2019, 01:50:29 von KaSy »
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Re:Berichte vom 36. HT-Info-Tag am 9. Mai 2015 im Würzburg
« Antwort #8 am: 11. Juni 2015, 20:39:30 »
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8. Psychoonkologische Unterstützung für Betroffene und Angehörige

Dr. med. Mirjam Renovanz

Oberärztin
Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie
Universitätsmedizin der JGU Mainz
Langenbeckstraße 1
55131 Mainz

Warum beschäftigen wir uns mit der Psychoonkologie?
Bis zu Dreiviertel aller Hirntumor-Patienten sind psychosozial belastet und benötigen Hilfe.
Das betrifft auch deren Angehörige (z.B. Lebenspartner und Kinder, Freunde, ...).
Patienten und Angehörige sehen sich bei den verschiedenen Stadien der Erkrankung mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert.
Gliom-(und alle anderen Hirntumor-) Patienten sind prä- (vor-) und post- (nach-) operativ extrem belastet: Neurologische Defizite, neurokognitive (*) Einschränkungen, psychische Veränderungen und Persönlichkeitsveränderungen machen die Patienten von ihren Angehörigen abhängig, tragen zu Rollenveränderungen in der Familie bei und können zu erheblichen sozialen Veränderungen und Einschränkungen der Lebensqualität führen.

* Kognitive Fähigkeiten: Verarbeitung von Informationen durch das Gehirn, z.B. Aufmerksamkeit, Erinnerung, Lernen, Kreativität, abstraktes Denken, Planen, Orientierung, Vorstellungskraft, Konzentration, Argumentation, Selbstbeobachtung, Wille, Antrieb, ...

Wie und mit welchen Zielen wirkt die Psychoonkologie?
- Es geht um die Unterstützung bei der Krankheitsverarbeitung.
- Es geht um die Prophylaxe (Vorbeugung) psychischer Störungen, die im Falle eines längeren Verlaufs viel schwerer zu behandeln sind und für die Patienten zusätzlich sehr belastend sein bzw. werden können.
- Es wird krisenbegleitend geholfen.
- Es wird Ressourcen-orientiert gearbeitet. (Man geht von den zu den jeweiligen Zeitpunkten vorhandenen körperlichen und psychischen Möglichkeiten des Patienten sowie seinem sozialen persönlichen und beruflichen Umfeld aus, um individuelle Hilfen zu ermöglichen.)
- Es wird ICH-stärkend gearbeitet, d.h. in jeder Krankheits- und Heilungsphase soll das Selbstbewusstsein des Patienten gestärkt werden.

Während des Krankheitsverlaufs (und danach) gibt es viele kritische Situationen:
- Die Diagnose kann einen Schock auslösen.
- Die regelmäßigen MRT-Kontrollen sind immer vorher (z.T. auch danach) sehr belastend.
- Die Möglichkeit eines Progresses (weiteres oder neues Tumor-Wachstum) besteht und ängstigt.
- Die Situation vor der Operation ist mit 75 % der größte psychische Belastungsfaktor (aller Belastungsfaktoren).
- Postoperativ (nach der Operation) benötigen 25 % der Patienten psychosoziale Unterstützung.

Für Hirntumorpatienten ist eine spezielle Rehabilitation erforderlich.
Es geht nicht nur um die Wiedererlangung der körperlichen Fitness, sondern besonders auch um die psychische Begleitung, um das Verständnis, dass ein Hirntumor und dessen Behandlung gegenüber anderen Krankheiten etwas grundsätzlich anderes ist. Des weiteren geht es um die Feststellung kognitiver Einschränkungen und möglichst deren weitestgehender Wiederherstellung.

Erschöpftheit, Müdigkeit (auch als Fatigue bezeichnet) ist eine auffallende Begleiterscheinung bei Erkrankungen an Krebs und insbesondere an Hirntumoren. Sie kann sehr viele Ursachen haben. Eine davon ist die ständige Beschäftigung mit der Krankheit und deren verändernde Folgen für das weitere Leben.

Es wurde ein so genannter Distress-Fragebogen entwickelt, der relativ einfach auszufüllen ist und als Instrument für die Einschätzung der psychosozialen Belastung dient. Er soll (idealerweise) im Anfangsstadium und dann begleitend regelmäßig im Krankheitsverlauf von den Patienten ausgefüllt werden, um die Entwicklung der psychischen Belastung feststellen und psycho-onkologisch darauf reagieren zu können. Für diese Erfassung bieten sich die regelmäßigen Nachuntersuchungen mit den MRT-Kontrollen an, zu deren Terminen psychoonkologische Kontakte ermöglicht werden sollten.

Gute Befunde – trotzdem Probleme?!
Während die Patienten vor der MRT-Kontrolle Angst haben, müssten sie nach einem festgestellten günstigen Ergebnis eigentlich erleichtert sein. Wenn kein Tumor mehr zu sehen ist, müsste es ihnen doch gut gehen. Aber gerade danach treten Energielosigkeit und Antriebslosigkeit auf. Die Angst vor einem Rezidiv bleibt bestehen. Die Änderungen der Hirnfunktionen werden als belastend empfunden, da sie sich dauerhaft im Alltag auswirken. Die Angst um die Angehörigen spielt auch immer eine Rolle.

Die Angehörigen selbst sind durch ähnliche Belastungen nahezu gleichermaßen betroffen. Sie leiden mit dem Patienten mit, wollen helfen, entwickeln teilweise eine Unmenge von Aktivitäten für die beste Behandlung und spüren doch stets ihre Hilflosigkeit. Das durch die Krankheit veränderte Leben betrifft sie auf andere Weise, sie neigen dazu, ihr eigenes Leben zurückzustellen. Gerade Ehe- und Lebenspartner opfern sich für den Partner häufig auf. Ihre psychische Belastung ist durch das Verantwortungsgefühl, das sie sich abverlangen, sehr groß. Sie meistern die Aufgabe, das Familienleben, ihre berufliche Tätigkeit und den gesamten Alltag zusätzlich zu ihrem Bemühen um den Erkrankten weiterhin zu realisieren. Oft müssen sie Aufgaben übernehmen, die vorher in der Familie geteilt worden waren. Eine besondere Belastung kann die finanzielle Situation darstellen.

Hilfsangebote
- Neue Konzepte zur Selbsthilfe sind in den Niederlanden entwickelt worden. Dort wurden fünf Module mit Texten und Übungsteilen erstellt. Mit diesen läuft eine Studie.

- Die Arbeit von Selbsthilfegruppen ist für die Betroffenen und die Angehörigen sehr wichtig.

- Bei besonders belastenden psychosozialen Problemen ist es auch möglich, eine psycho-onkologische Beratung und Hilfe im häuslichen Umfeld gemeinsam mit den Angehörigen durchzuführen. Diese häusliche Intervention ist sehr günstig, bleibt aber Ausnahmefällen vorbehalten.

- Körper und Seele gehören zusammen. Das ist bekannt und mit Blutuntersuchungen und des Tumorsmaterials hat die psychische Belastung bereits Eingang in die Labortechnik gefunden!

- Ein Screening mit Fragebögen bei Gliom-Patienten hat ergeben, dass fast alle mit einem schlechteren Allgemeinzustand den Wunsch nach psychosozialer Unterstützung haben.

- Das Bundesgesundheitsministerium hat bereits im Jahr 2008 festgelegt, dass jedem Krebskranken in Deutschland die Möglichkeit einer psychoonkologischen Betreuung zusteht. Bis zu Realisierung dieses Ziels wird es wohl noch einige Zeit dauern, aber gute Anfänge sind vielerorts bereits in die Praxis umgesetzt.

- Hirntumorpatienten können sich an den Krebsinformationsdienst (0800 / 420 30 40) und an das  Sorgentelefon der Deutschen Hirntumorhilfe e.V. (03437 / 999 68 67 , dienstags von 10 bis 15 Uhr) wenden.


Aus der Patientenfragerunde:

- Eine Überweisung des Hausarztes für die Psychoonkologie genügt, um zu diese Hilfen den Zugang zu erhalten.

- Ob psychische Veränderungen organisch durch den Tumor oder durch die seelischen Belastungen entstanden sind, ist weniger wichtig, Hauptsache, es wird etwas dagegen getan.

- Wenn Betroffene keine psycho-onkologische Unterstützung möchten, wenn sie keine Einsicht in die von Angehörigen festgestellte Notwendigkeit einer Psychotherapie wegen ihrer Persönlichkeitsveränderungen haben, kann man sie nicht dazu zwingen.

- Auch für Meningeom-Patienten nach einem langen Verlauf bestehen die gleichen psychischen Belastungen wie bei Gliom-Patienten. Das ist durch eine Studie gezeigt worden. Die Psycho-Onkologie ist auch für diese Patienten ohne eine Akutsituation und ohne tödlichen Verlauf richtig. Sie werden dort nicht abgelehnt.


KaSy
(Kursiv gedruckte Textteile von KaSy)
« Letzte Änderung: 29. September 2019, 01:50:54 von KaSy »
Wenn man schon im Müllkasten landet, sollte man schauen, ob er bunt angemalt ist.

Der Hirntumor hat einen geänderten und deswegen nicht weniger wertvollen Menschen aus uns gemacht!

 



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